http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2016/0262
Fremde Heimat
261
bar gemacht, Geschlachtetes verarbeitet. Flachs und Hanf lieferten
die Stoffe für Kleidung und Ausstattung. Ausgiebig feierte
man die Festtage mit Essen und Trinken und gegenseitigen
Besuchen in den Familien. Es wurden die überlieferten Sitten
und Gebräuche gepflegt. Mischehen waren eher selten. Michael
Silzer, Jahrgang 1909, war gelernter Böttcher (Küfer). Zunächst
arbeitete er im väterlichen Betrieb und vor der Umsiedlung in
einer Fassbinderfabrikation.
Flucht und Austreibung
Am 6. Oktober 1939 verkündete Hitler in seiner Rede vor dem
Reichstag ganz offen sein Ziel einer „völkischen Flurbereini-
gung" im Osten und Südosten. Er begründete diese damit, dass
die Umsiedlung der außerhalb der Reichsgrenzen lebenden
Deutschen Voraussetzung sei für stabile politische Verhältnisse
in den betroffenen Gebieten und damit für den Frieden. Eben
jene Begründung des Führers war fast die gleiche wie sie von
Polen und der Tschechoslowakei für die Vertreibung der Deutschen
ab 1945 abgegeben wurde. Siedlungsraum für die Umsiedlung
der Deutschen sollte durch die „biologische Vernichtung
" der Juden geschaffen werden. Geschätzte 15 Millionen
Deutsche waren nach 1945 gezwungen ihre Heimat zu verlassen
. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kamen 2,5
Millionen durch Flucht und Vertreibung ums Leben. Im kriegszerstörten
Deutschland mussten 12,5 Millionen Menschen
eine Aufnahme rinden.
Die größte Gruppe unter den Heimatvertriebenen, die in
Steinach eintrafen, waren ostpreußische Familien. Es waren 75
Männer, Frauen und Kinder. Den Älteren unter den Befragten
sind die dramatischen Bilder der Flucht, die Toten und Verwundeten
, unmittelbar gegenwärtig. Ostpreußen geriet bereits
im Oktober 1944 ins Kreuzfeuer der heranrückenden Ostfront.
Die Durchhalteparole der NSDAP verzögerte die rechtzeitige
Evakuierung. Es wurden sogar Strafen angedroht. Aber dann
machten sich Schreckensmeldungen über an Zivilisten begangenen
Gräueltaten durch russische Soldaten breit. Sie lösten
Panik aus und die gewaltigen Trecks versuchten der Roten
Armee zu entkommen. Allenfalls die Alten und die Gebrechlichen
blieben zurück. Ganze Dörfer leerten sich. Die Wagen
waren vollbepackt bis obenhin, darauf Frauen, Kinder und
Greise. Nicht jeder hatte einen Wagen, schon gar nicht ein
Zugtier. Familie Guddat ist erst aufgebrochen, als die Wehrmacht
Königsberg im März 1945 freigekämpft hatte. Immer
wieder hatten sie ihren Aufbruch verschoben. Sie wollten ihre
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2016/0262