http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2016/0419
418
Karl Hansert
Der Pfarrer sah also seine Kirche verschlossen, seit fast drei
Monaten, und dann diese unsägliche Verleumdung! Wer den
kämpferischen und schon auch zu cholerischen Ausbrüchen
neigenden Pfarrer gekannt hat, mag nachempfinden, wie sehr
er durch diese Anzeige und das beschämende Verhör zutiefst
getroffen und verletzt war. Einen bewegenden Eindruck
seiner Gemütsverfassung zeigt ein Eintrag auf einem Blatt in
den Akten: Hier hat er handschriftlich alle neun Strophen des
Gedichtes „Die öffentlichen Verleumder" von Gottfried
Keller10 aufgeschrieben: „Ein Ungeziefer ruht im Staub und
trocknem Schlamme, (...) gehüllt in Niedertracht und zischelt
seine Grüße (...) ein Lügner vor dem Volke Beigefügt ist
ein Zeitungsbeitrag, in dem das Leben des Dichters, des „reifen
Mannes in vielerlei Nöten" beschrieben ist. In ihm mag
der Pfarrer sich wohl selbst erkannt und vielleicht auch getröstet
haben.
Die Kirche im Dorf blieb also weiterhin versiegelt und
verschlossen, und wenn es nach dem offensichtlich zu allem
entschlossenen Bürgermeister auf dem Rathaus gegangen
wäre, hätte der Pfarrer die Weihnachtsmesse für sich allein in
seiner menschenleeren Kirche lesen können. Inzwischen
schien aber in den Herren im Bezirksamt in Offenburg die
Erkenntnis gereift zu sein, dass das doch zu weit gehen würde.
Deshalb stellten sie einen Tag später fest, dass die Seuche
plötzlich und auf wundersame Weise erloschen war, nachdem
der Bürgermeister noch einen Tag zuvor einen „neuen Seuchenfall
" diagnostiziert hatte. „Ein Wachtmeister aus Offenburg
war mit dem Rad gekommen", wie der Pfarrer notierte,
und brachte noch am Abend des 23. Dezember Post vom
Bezirksamt: Es gibt keine Maul- und Klauenseuche mehr im
Dorf, die Leute dürfen wieder in ihre Kirche gehen. Der
„Bott" (Anm.: Gemeindediener) radelt, wie das damals und
bis in die frühen 1950er Jahre üblich war, durch die Straßen
des Dorfes, läutet mit der „Schelle" und verkündet der Gemeinde
die frohe Weihnachtsbotschaft von der Öffnung ihrer
Kirche. So versammelte sich die Gemeinde am Weihnachtsmorgen
in der Kirche, nachdem sie fast drei Monate lang
verschlossen gewesen war. Indessen, die Erinnerung an diese
Ereignisse ist, wie oben schon erwähnt, im Dorf fast vollständig
verschwunden.
Die Kirche war also wieder offen, aber der nächste Streit
ließ nicht lange auf sich warten. Denn kaum einen Monat
später war es wieder soweit, und wenn die Angelegenheit
nicht so ernst und bedrückend gewesen wäre, könnte man
fast kabarettistische Züge erkennen: In der Fastenzeit des
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/ortenau2016/0419