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304 Andreas Morgenstern
des russischen Unrechtsregimes, mit dem die Westalliierten
gemeinsame Sache machten. Propagandistisch war das wertvoll
. Der „Burgfrieden"13 in Deutschland basierte gerade darauf
, dass selbst die bisher als „Reichsfeinde" verurteilten Sozialdemokraten
die Kriegsanstrengungen unterstützten - und gerade
bei der SPD war die Abneigung gegen das zaristische Regime
besonders ausgeprägt.
Dies war ein kurzer Ausschnitt aus der scheinbaren, für manchen
Leser 1914 aber wohl tatsächlichen Realität des Kriegs.
Möglich geworden mit der scheinbaren Eindeutigkeit der Botschaft
von Fotografien, fand diese Realität den Weg ins heimische
Kinzigtal. Manches mögen die Leser geglaubt haben,
manches sicherlich nicht. 1919 erschien eine Abrechnung mit
der Presse Deutschlands unter dem Titel „Wie wir belogen wurden
. Die amtliche Irreführung des deutschen Volkes".14 Tatsächlich
zeigen allein die hier vorgestellten Bilder mit ihren
jeweiligen Erklärungen, aber wohl vielmehr noch die nicht
gezeigten Bilder von uns heute bekannten Ereignissen und
Zusammenhängen, dass den Menschen zumindest nicht die
volle Wahrheit gezeigt wurde - und das praktisch vom ersten
Tag an: Kein Sterben und Tod, keine verfolgten Zivilisten, kein
zerstörtes Löwen, kein Hunger, kein Elend, kein Zweifel, keine
Niederlagen.
Kommt man zum Urteil, dass der „Kinzigtäler" gelogen
hätte, dann tat er das vom ersten Tag an, lange vor jeder kriegswichtigen
Entscheidung. Ein Wandel ist nicht zu beobachten,
aber es waren von August bis Dezember ja auch nur wenige
Monate. Offensichtlicher „Fake" an den Bildern ist nicht nachweisbar
, doch die Auswahl war gesteuert.
Andererseits: Dass wir uns heute hier mit der Steuerungskraft
von Fotos im Ersten Weltkrieg überhaupt beschäftigen,
zeugt bereits von einer gewissen Demokratisierung. In früheren
Kriegen war der Abdruck gar nicht möglich gewesen,15 da
stellte sich die Frage nicht. Aber er wäre auch nicht so wichtig
gewesen. In der Zeit der großen Massenheere, als auch die sogenannte
„Heimatfront" völlig in die Kriegsführung einbezogen
war, mussten jedoch die Menschen von Sinn und Zweck
des Kriegs überzeugt werden. Ein reines „Befehl und
Gehorsam"-System funktionierte im 20. Jahrhundert nicht
mehr. Das Volk musste einbezogen werden, war zumindest bis
zu einem gewissen Grad zu überzeugen. Andernfalls wäre eine
umfassende Kriegsführung unmöglich gewesen - General von
Emmich konnte natürlich in Wirklichkeit nicht allein Lüttich
einnehmen. Kaiser Wilhelm II. mochte einen militärischen
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