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Dorothee Neumaier
Heim auch auf Zitrusfrüchte wie Apfelsinen und Zitronen zurückgreifen
. Nahrhafte Aufläufe, beispielsweise aus Grießbrei
oder Sago, wurden häufig mit den verschiedensten Obstsorten
zusammen verarbeitet. Eis gab es hauptsächlich in den Sommermonaten
nach dem sonntäglichen Mittagsessen, Süßspeisen
- in der Regel Obstaufläufe - auch unter der Woche. Des
Öfteren bestand das Abendessen aus Kuchenmahlzeiten, die
neben Obst- und Rührkuchen auch Dampfnudeln, Apfelküchle
, Ofennudeln und Hefegebäck umfassten. Creme und
Pudding wurden häufig als Dessert gereicht.
Am Dienstag, den 25. Februar 1943, standen als Abendessen
erstmalig jüdische Matzenknödel mit Dörrobst, Brot, Käse und
Tee auf dem Speisezettel des Nordracher Lebensbornheimes.105
In den folgenden Wochen, bis einschließlich 8. April, bereitete
die Köchin noch drei weitere Male Matzenknödel zu und
ließ sie zum Abendessen servieren.106 Doch was könnte Oehler
dazu veranlasst haben, ein jüdisches Gericht auf den Speisezettel
eines Lebensbornheimes zu setzen? Frau Oehler war bereits
Köchin im Rothschild-Sanatorium gewesen und konnte folglich
koscher kochen. Infolgedessen war sie nicht nur mit den
jüdischen Ritualen, sondern auch mit koscheren und speziellen
jüdischen Feiertagsgerichten bestens vertraut. Nisan, der
erste Monat des jüdischen Kalenders, fällt in den Frühling
(März/April).107 Bei Vollmond in diesem ersten Monat beginnt
die mehrtägige Passah-Zeit (Pessach).108 Die wichtigste Gedenkfeier
dieses Passah-Festes ist der Seder-Abend, dem sich traditionell
der einwöchige Verzehr von Matzenknödeln anschließt.
Es war wohl kein Zufall, dass Oehler die Matzenknödel im
März zubereitete. Sie war vielleicht mit dem jüdischen Kalender
nicht so vertraut, dass sie genau wusste, wann die Passah-
Zeit begann. Aber sie wusste durch ihre langjährige Tätigkeit
im Rothschild-Sanatorium mit Sicherheit, dass die Passah-Zeit
im März oder April 1943 beginnen musste.
Die Ernährung war im Nationalsozialismus keinesfalls eine
private Angelegenheit, sondern wurde vielmehr instrumentalisiert
und strengstens kontrolliert. Ernährungsfragen berührten
so verschiedene Bereiche wie beispielsweise Schwarzschlachtungen
, Lebensmittelkarten- und Bezugsscheinbetrügereien,
das Horten von Lebensmitteln und Rohstoffen, die als Kriegswirtschaftsverbrechen
vor zuständigen Sondergerichten mit
drakonischen Strafen - mitunter dem Verhängen der Todesstrafe
- geahndet wurden.109 Vor dem Hintergrund, dass die
Passah-Zeit im Gedenken an die Befreiung aus der Knechtschaft
gefeiert wird, erscheint die Hypothese, dass vielleicht
Oehlers persönlicher Wunsch, das jüdische Volk möge bald aus
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