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390 Wolfgang M. Gall, Carmen Lötsch
schlitternd ist auch die jahrelange Gleichgültigkeit in Wissenschaft
, Medien und Politik. Eine Aufarbeitung fand lange Zeit
nicht statt. Im Gegenteil: Ehemalige Täter wurden zu Ordinarien
befördert, mit Verdienstkreuzen geehrt, ihre Taten wurden
verdrängt und vor allem: Die Opfer wurden vergessen. Auch
hier gilt Scham wohl als wesentliches Motiv, Scham darüber,
Schreckliches getan, zugelassen oder gebilligt zu haben. Wegen
solcher Verdrängung und Verleugnung dauerte es Jahrzehnte,
bis ein Sinneswandel einsetzte (...) Dass Gedenken überhaupt
möglich wurde, geht auf das unermüdliche Engagement Einzelner
zurück. Ihnen schulden wir umso größeren Dank, als sie
lange Zeit heftiger Kritik ausgesetzt waren und als Nestbeschmutzer
galten."
Diese Öffnung wirkte sich mittelfristig auf die Hochschulen
und Schulen, auf Kommunen und Gesellschaft aus. Gestärkt
wurde die Wiederaufnahme der Vergangenheitspolitik durch
den in der Öffentlichkeit diskutierten Ulmer-Einsatzgruppen-
prozess (1958) und den Auschwitz-Prozess (1964-65). Sie zeigten
, dass viele nationalsozialistische Verbrecher unerkannt in
der Gesellschaft lebten, und dass die Auseinandersetzung mit
der NS-Zeit nicht mit der Aburteilung der wenigen Haupttäter
beendet war.
Mit der 1968er-Bewegung vollzog sich kein Neuanfang der
Aufarbeitung - entgegen einem verbreiteten Mythos. Aber sie
initiierte eine intensive politische Abrechnung der nachwachsenden
zweiten Generation mit der schweigenden Elterngeneration
. Es folgten große geschichtspolitische Debatten wie beispielsweise
der Historikerstreit (1986), die Weizsäcker-Rede
(1985), die Jenninger-Rede (1986), die Wehrmachts-Ausstellung
(1995 ff.) und eine zunehmende Medialisierung (Fernsehserie
Holocaust 1977).
Diese bundesrepublikanischen Entwicklungen haben den
Offenburger Umgang mit der NS-Zeit und den NS-Verbrechen
mitbestimmt. Eine konstruktive geschichtspolitische Auseinandersetzung
mit der lokalen NS-Geschichte kam hier mit dem
damaligen Kulturamtsleiter Dr. Hans-Joachim Fliedner in Gang.
Ihm gelang eine Neuausrichtung der städtischen Erinnerungskultur
, die bis heute positiv nachwirkt. Wichtig war dabei die
Stärkung von Stadtarchiv und Museum als Stätten der Forschung
und historischen Bildungsarbeit. Was mit einem Forschungsprojekt
„Verfolgung und Widerstand" begann, entwickelte
sich zu einem erinnerungspolitischen Prozess in Offenburg
, der bis heute aktuell geblieben ist: Er findet seinen wichtigsten
Erinnerungsort heute in dem Offenburger Kulturdenkmal
„Salmen". Am Beginn der neuen erinnerungspolitischen Wende
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