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394 Wolfgang M. Gall, Carmen Lötsch
vom individuellen Standpunkt und Erfahrungshorizont des
Einwohners. In unserer sich verändernden Gesellschaft ist
daher nicht allein die Standortbestimmung aus städtischer
Sicht wichtig. Wir müssen auch die Menschen betrachten, für
die wir mitverantwortlich sind. Nur so können wir sie erreichen
. Grob können wir dabei vier Gruppen unterscheiden:
1. Die Generation derer, die die Zeit des Nationalsozialismus,
des Zweiten Weltkriegs, Flucht und Vertreibung noch selbst
erlebt haben. Diese Generation hat persönliche Erfahrungen
als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener mit dem totalitären
Staat, mit Krieg, Kriegsfolgen und damit verbundenen
Traumata;
2. Die Generation derer, die nach 1945 geboren sind und die
Zeiten des Kalten Krieges, der Aufarbeitung des Unrechts
bewusst erlebt haben. Sie haben Erfahrungen mit den Traumata
der Elterngeneration und Erfahrungen mit der Zeit des
Post-Nationalsozialismus, in dem die Nachwirkungen des
totalitären Staates noch erfahrbar waren. Sie hatten passiv
oder aktiv teil an der unmittelbaren Aufarbeitung;
3. Die sogenannte Enkelgeneration, die junge Generation
derer, für die der Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit
Historie im eigentlichen Sinne sind. Sie haben keine
persönlichen Erfahrungen mit Diktatur, Krieg, Flucht und/
oder Vertreibung;
4. Die Menschen, die aus anderen Ländern, mit ihren eigenen
Kriegs-, Flucht- und Vertreibungserfahrungen oder Totalita-
rismus-Erfahrungen nach Deutschland gekommen sind. Für
diese Menschen überlagern die persönlichen Erfahrungen
die von uns erzählte Geschichte.
Der Historiker Götz Aly betonte in einem eindrucksvollen Vortrag
am 9. November 2015 in Offenburg, die Antisemiten von
gestern seien nicht gänzlich andere Menschen gewesen als wir
heute. Diese Aussage enthält Sprengkraft und ist für die Erinnerungskultur
von großer gesellschaftspolitischer Bedeutung,
denn die zeitliche und emotionale Distanzierung lässt Geschichte
erstarren und macht sie handhabbar für die Pflege
eines vermeintlich unproblematischen, gesellschaftlichen
Selbstbildes. Schließlich geben die NS-Verbrechen immer eine
Kontrastfolie für die Gegenwart. Eine Gegenwart, die uns bis
vor kurzem noch heil, friedlich und gerecht erschien. Die weltpolitischen
Entwicklungen der letzten Jahre, insbesondere die
ethnischen Säuberungen und Massenverbrechen und jüngst
der IS-Terror und die damit einhergehenden Flüchtlingsbewegungen
machen deutlich, dass wir uns nicht selbstzufrieden
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