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Vorkriegszeit und Erster Weltkrieg im Spiegel der Briefe und Postkarten von Zivilisten und Soldaten
kunft. Auch dies: In einer Zeit, da die Religion im Leben und
Denken vieler eine überragende Rolle spielte, die Kirche Volkskirche
war, im Schützengraben angeblich keine Atheisten zu
finden waren, wurde das eigene Gebet oder der Dank für das
Gebet der Angehörigen zu Hause um Rettung aus allen Gefahren
nicht erwähnt.
Eng war der Horizont der Schreiber, kein Wunder bei den
damaligen Informationsmöglichkeiten und der drohenden
Kontrolle der Korrespondenz durch die staatlichen Instanzen.
So treten persönliche Schicksale, Nöte, Anliegen und Hoffnungen
von (Front-) Soldaten und Familien zu Hause in den Blick,
in wie vielen der Wunsch nach Frieden und glücklicher Heimkehr
! Unerwähnt bleiben die deutschen politischen und militärischen
Führer Wilhelm IL, Bethmann Hollweg, Hindenburg
oder Ludendorff, von den „feindlichen" ganz zu schweigen.
Unerwähnt bleibt die Parole „Mit Gott für Kaiser und Vaterland
". Keine Spur einer Diskussion von Ursachen oder Wendepunkten
des Krieges. Nichts erfahren wir aus diesen Quellen
vom Scheitern des Unternehmens nach dem Schlieffenplan
oder dem Übergang zu den Materialschlachten. Zu fragen
wäre: was wussten die nicht direkt an den großen Schlachten
in der Normandie, um Verdun, an der Somme, am Hartmanns-
weilerkopf Beteiligten vom Verlauf des Krieges, vom Eintritt der
USA 1915 in den Krieg, von der Oktoberrevolution in St. Petersburg
und Moskau, von den 14 Punkten Präsident Wilsons zur
Friedensordnung der Welt, vom Frieden von Brest-Litowsk? Die
Diskussion über Kriegsziele oder Landgewinne ging an den
Soldaten anscheinend vorbei. Über Kriegsaussichten, Siegeschancen
, diplomatische Bemühungen wurde die Bevölkerung
nicht informiert, schon gar nicht die Frontsoldaten. Von einer
drohenden Niederlage war die längste Zeit keine Rede. Im Gegenteil
: Mir als Studenten sagte noch mein Lehrer Emil Oexle,
Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, Hindenburg sei zu
Pferd an die Front gekommen und habe den Soldaten zugerufen
, der Sieg sei sicher. Ganz anders eine Erinnerung, die über
meine Mutter an mich kam: Eine Nachbarin sei (wohl im dritten
oder vierten Kriegsjahr) unter der Küchentüre gestanden
und habe in weinerlichem Ton gesagt: „Es ist einem alles ganz
verleidet!"
Um das Ergebnis des Ganzen vorwegzunehmen:
Unternehmer und Unternommene gab es in der Geschichte der
Völker und Staaten wohl immer, aber selten kommen Letztere
so vernehmlich zu Wort wie in den Briefen und Postkarten der
Zivilisten und Soldaten aus Mittelbaden, denn indem diese
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