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Ute Scherb
Erst im April 1917 trat Amerika auf Seiten der Entente in den
Krieg ein. In weiten Kreisen der deutschen Gesellschaft galt
Wilson wegen seiner Haltung als wankelmütiger Schwächling
- ein Standpunkt, den sich offenbar auch Nückles zu eigen gemacht
hatte: „Der Affe Wilson hat wieder eine Brandrede vom
Stapel gelassen, dieser fromme ,Friedensenger zeigt endlich der
Welt sein wahres Gesicht. Ein größerer Schuft existiert nicht
unter Gottes Sonne!" Es muss unklar bleiben, wie viele Details
der Rede bis nach Kehl gelangten. Sicher ist, dass Wilsons Forderung
, Deutschland müsse nicht nur die besetzten Gebiete in
Russland, Belgien und Frankreich räumen, sondern vor allem
die Annexion von Elsass-Lothringen wieder rückgängig machen
, auf wenig Gegenliebe gestoßen sein dürfte.6 Da half es
nichts, dass Wilson in seinen späteren Erläuterungen ausführte,
Deutschland dürfe in der künftigen Weltordnung innerhalb der
Völkergemeinschaft nicht benachteiligt werden. Am 24. Januar
1918 lehnten die Mittelmächte das Programm rundweg ab. Die
militärische Situation schien ihnen nach dem Waffenstillstand
mit Russland durchaus aussichtsreich, und die Oberste Heeresleitung
, also Hindenburg und Ludendorff, plante bereits eine
neue Offensive an der Westfront.7 Gerade in Kehl waren die
Vorbereitungen dafür deutlich zu spüren. Noch am 24. Januar
trug Nückles folgende Beobachtungen in sein Tagebuch ein:
„Zur Zeit haben wir wieder große Truppenbewegungen, der
Urlaub ist auf 14 Tage gesperrt [...]. Es ist eine Bahnhofskommandantur
errichtet worden. Ich glaube, die allgemeine deutsche
Offensive hat begonnen, obgleich es in der offiziösen Depesche
immer heißt ,Von den Kriegsschauplätzen nichts Neues'."
Währenddessen herrschte in Russland Bürgerkrieg und es
kam zu Unruhen, die Nückles als schlechtes Omen für den erhofften
Friedensschluss wertete. Am 21. Januar schrieb er: „In
Petersburg herrscht z.Zt. wieder Revolution, die Bolschewiki
sind bei den Neuwahlen in der Minderzahl geblieben. In den
Straßen knattern schon wieder die Maschinengewehre und das
Blut fließt in Strömen. Was wird das Ende vom Liede sein? Die
Friedensverhandlungen werden wieder zu Wasser werden/'
Allmählich wuchs aber auch sein Misstrauen gegenüber der
eigenen Regierung, der er nun mangelnden Verhandlungswillen
unterstellte: „Das ist der preußischen Junkersippschaft aber
recht, so will es diese haben. Mit Männern wie Trotzki und
Lenin will diese Bande keinen Frieden schließen. Ich glaube,
denen wäre es das liebste, der Zar käme wieder ans Ruder, denn
sie haben Angst, der Umsturz greift über die Grenze herüber/'
Ganz unrecht hatten sie damit nicht, wie sich knapp zehn Monate
später zeigen sollte.
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