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234 Psychische Studien. 1. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1874.)
„Diese unterscheidet sich von der abergläubigen und
ungläubigen dadurch, dass sie weder ohne Weiteres annimmt
, noch ohne Weiteres ablehnt, sondern prüft, ob
und was an den berichteten aussergewohnlichen Erscheinungen
Wahres und Reelles ist und dann, nachdem dieses
festgestellt ist, die Erklärung versucht, ohne dabei gleich
zu übernatürlichen Ursachen die Zuflucht zu nehmen.
„Der echte wissenschaftliche Geist hält sich gleichweit
entfernt von den beiden Extremen des absprechenden Unglaubens
und des unterwürfigen Aberglaubens. Er erklärt
nicht ohne Weiteres jede neue, unerhörte, über die bisher
bekannten Kräfte und Gesetze hinausgeheude Erscheinung
für unmöglich; aber er ist auch nicht geneigt, jeden
Bericht über derartige Erscheinungen ohne Weiteres für
baare Münze zu nehmen. Denn der wiSiSenscLaftliche Geist
weiss, dass über Realität oder Nichtrealität von
Wesen und Kräften sich nicht d priori entscheiden lässt,
sondern nur durch Eifahrung; er weiss aber auch, dass
nicht allen angeblichen Erfahrungen objective Realität zum
Grunde liegt, sondern in \dele sich subjective Seelenvorgänge
einmiseaen. Demgemäss wird der wissenschaftliche Geist
die FiTge, z. B. ob den Lebenden die Geister Verstorbener
erscheinen, nicht ohne Weiteres bejahen, aber auch nicht
ohne Weiteres verneinen, sondern er wird prüfen. Er wird
weder so anmassend sein, behaupten zu wollen, dass die
Erscheinung der Geister Verstorbener absolut unmöglich
sei, noch so dummgläubig, jede angebliche Geislererscheinung
so, wie sie berichtet wird, für eine reale zu nehmen.
So haben es Kant und Schopenhauer gehalten. Kant (in
seiner Schrift „Träume eines Geistersehers, erläutert durch
Träume der Metaphysik", 1766) läugnet nicht den objectiven
Einfluss abgeschiedener Geister auf Lebende, unterscheidet
aber von diesem Einfluss die sinnlichen Formen, in die er
sich einkleidet. Diese hält er für subjectiven Ursprunges,
bedingt durch die Zustände des Organismus, die Phanta-ie
und die Erziehungsbegriffe des Geistersehers.
„Nunmehr," fährt Kant fort, „kann man nicht verlegen
sein, von den Gespenstererzählungen, die den Philosophen
so oft in den Weg kommen, ingleichen allerlei Geistereinflüssen
, von denen hier oder dort die Rede geht, scheinbare
Vernunftgi ünde anzugeben. Abgeschiedene Seelen und reine
Geister können zwar niemals unseren äusseren Sinnen gegenwärtig
sein, noch sonst mit der Materie in Gemeinschaft
stehen, aber wohl auf den Geist des Menschen, der mit
ihnen zu einer grossen Republik gehört; wirken, so, dass
die Vorstellungen, welche sie in ihm erwecken, sich doch
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