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Die Theorie d. unwillkürlichen Muskelthätigkeit v. Dr. Carpeuter. 273
Wales verlassen, sein ganzes Leben als Diener verschiedener
Mitglieder derselben ei glischen Familie zugebracht und seine
Muttersprache so vollständig vergessen hatte, dass er weder
im Stande war, sie zu reden, noch zu verstehen, wenn er
Besuche von seinen Landsleuten erhielt, im Delirium eines
Fiebers nach 70 Jahren fliessend Welsch zu sprechen, und
verlor bei seiner Wiedergenesung alle Rückerinnerung an
diese Sprache von neuem. Und es giebt auch wohl verbürgte
Fälle, in denen unter der augenblicklichen Gefahr des Ertrinkens
, oder irgend einer anderen Art eines plötzlichen
Todes, Ereignisse des frühesten Lebens, welche schon lange
aus der bewussten Erinnerung entschwunden waren, wieder
wie in einem Gemälde mit ausserordentlicher Lebhaftigkeit
sich vorstellten. Wie nun auch immer die Natur der Verrichtungen
beschaffen sein mag, wodurch diese verlorenen
Spuren wieder aufgefunden werden, so ist es doch gewiss,
dass sie, weil sie ja doch gänzlich aus unserem Willen und
Bewusstsein verbannt sind, ganz automatisch, oder so zu
sagen, mechanisch sein müssen. Und es ist ganz in Ueberein-
stimmung mit der allgemeinen Analogie der automatischen
Wirksamkeit der übrigen Nerven-Centren, dass die automatische
Thätigkeit des grossen Gehirns, selbst wenn sie unter
der Sphäre des Bewusstseins liegt, sich in Muskelbewegungen
ausdrückt; und dass Tische und Planchetten auf diese Weise
Thatsacben enthüllen, welche, einmal gewusst, längst vergessen
waren, oder Antworten ertheilen, die zwar im Widerspruch
mit dem derzeitigen Glauben des Fragestellers stehen,
aber **uf eine nachfolgende Untersuchung als wahr erfunden
werden.*) Der erste Fall, welcher uns diese Anwendung
der Lehre von der „Unbewussten Oerebration" an die Hand
gab, ereignete sich bei einem ausgezeichneten Schriftsteller
, zu dessen Wahrhaftigkeit wir das vollste Zutrauen
*) Diese Erklärung erbcheint mir für Physiologen weiterer experimenteller
Begründung werth und schliesst sich an die von mir ve-suchte
„spiritualistiseh-naturwissensehattliehe Erklärung eines von Qöthe mitgeteilten
merkwürdigen Phänomens an zwei Tischen und verwandter
Erscheinungen" (s. Heft VII ff.) in einem gewissen Sinne an. Aber sie
erschüttert die sog. „spiritualistische Hypothese" noch keineswegs ttir
alle gegebenen Fälle, und ist mindestens ebenso wunderbar und seltsam
, wie diese. Denn was für eine kunstvolle Kratt erbaut und handhabt
denn unser Gehirn in diesem seinem merkwürdigen selbstbe-
wussten ünbewusstsein wie automatischen Bewusstsein? Und könnte
es dann nicht von einer äusseren gleichen Gehirn-Kratt ebenso
unbewusst-mechaniöch mit Gedanken, wie von sonstigen sinnlichen
Eindrücken, beeiuflusst oder inspirirt werden? — Damit ist aber wider
alles Erwarten die ganze vermeintliche schon begrabene spiritualistische
Theorie wieder auterstanden!
Der Uebersetzer.
Psychische Studien. Juui 1871. 18
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