http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1874/0522
516 Psychische Studien. L Jahrg. 11. Heft. (November 1874.)
so bedenke man nicht, dass es mit dem Glauben an die
individuelle Unsterblichkeit schlecht aussehen würde, wenn
er wirklich auf einem Grunde beruhte, nach welchem, aller
Beobachtung zuwider, die Seele im Leibe wie eine Gefangene
im Kerker angesehen wird. Diese Vorstellung sei
nicht nur unvernünftig, sondern überdiess, da sie eine Verachtung
des Körpers und einen daraus entspringenden einseitigen
Ascetismus oder eine Kreuzigung des Leibes zur
Folge habe, für die Sittlichkeit gefährlich.
..„Man spreche also nicht," - fährt Schölten selbst fort,
— „von einer Unsterblichkeit der Seele, d. i. einer Ab-
straction, sondern von der Unsterblichkeit des Menschen.
Das Wesen des Menschen ist von der Form, m welcher es
sich auf Erden zeitlich offenbart, nicht abhängig. Die
Form kann sich ändern, wie bei der Veränderung der Raupe
in den Schmetterling, oder bei der Entwickelung der Pflanze
und Blume aus dem Samenkorn, aber das Wesen bleibt.
Gleichwie die Raupe nicht aus zwei Theilen besteht, aus
der Raupenform, welche abgelegt wird, und aus dem Schmetterling
, der sich daraus entwickelt, sondern dasselbe Eine
Wesen, welches zuerst in der Form einer Raupe lebt, lebt
weiterhin in der Form des Schmetterlings, so denke man
das Sterben des Menschen als das Ablegen einer Form,
wodurch das Wesen des Menschen sich zu einer höhern
Lebenserscheinung entwickelt, und der Leib aus Fleisch
und Blut (crw/<« if>v%ix6r') durch eine edlere Form {nwf,a
m>£vu«ny.6r) oder den geistigen Leib ersetzt wird, aber nicht
als eine mechanische Scheidung zweier Dinge, welche frü.
her (bloss) mechanisch mit eiuander vereinigt waren.....-
Kur durch aufrichtiges Bekennen des Monismus und durch
die Erkenntnis der Homogenität Gottes und der Natur,
Gottes und des Menschen (und wTir) *] setzen hier noch
hinzu: des Leibes und der Seele, der Seele und des Geistes,
des Geistes und des Fleisches, des guten und des bösen
Princips, sofern dieselben von einer einseitigen Theologie
schroff von einander gerissen und als unversöhnliche Gegensätze
auseinander gehalten wurden), wird man eiiisehen.
da ss für den Glauben keine Widersprüche bestehen, und
dass, was Gott offenbart, durch die Vernunft begriffen werden
kann. Das Christenthum lehrt diesen Zwiespalt zwischen
dem Göttlichen und Menschlichen nicht. —
Wenn nun auch im weiteren Verfolg seiner Recension
Herr Dr. Julius Frauensltidt diese Lösung der Frage durch
Scholien eine zwar erbauliche, aber keine wissenschaftliche
*] Verfasser vorliegenden Artikels.
Die Red.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1874/0522