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524 Paychisehe Studien, 1. Jahrg. 11. lieft. (November 1874.)
J874 einen im gewissen Sinne beachtenswertheu Leitartikel
gegen Virchow von ihrem Chef-Redakteur, betitelt: „Der
Materialismus in Leben und Wissenschaft", worin es unter
Anderem am Schlüsse heisst: — „Dass auch die Naturwissenschaft
und Philosophie, von welchen das grosse Axiom
des „Kampfes um's Dasein'* ausging, von dessen Consequenzen
schwer betroffen sind, versteht sich von selbst. Wie in der
Politik der physischen Kraft, so ist auch in jenen Wissenschaften
die L ogik nicht m ehr massgebend. Die „Kraft'*
wiegt Alles auf. Der moderne Nalurfoi scher erklärt uns
mit Leichtigkeit jeden Vorgang der Natur, indem er einfach
an den Begriff des Vorgangs das Wörtchen Kraft" anhängt.
Wer wüsste nicht, dass sich die Erscheinung der Anziehung,
die z. B. der Magnet auf gewisse andere Körper ausübt,
von unseren Naturforschern auf eine Anziehungs-Kraft
zurückgeführt wird. Und da bezweifelt der .,grosse Virclunv"
noch die Existenz von Wundern, — er, der selbst an
solche Wunderkräfte glaubt, — da nennt er, „der Be-
seheidexie'*, die Wunder gar ,,unbescheiden" und — man
höre und staune! — „tendenziös'**). Der grosse Professor
würde uns in der That zu Dank verpflichten, wenn er uns
etwas Tendentiöseres nachweisen möchte, als es der
seichte, unphilosophische Materialismus ist, dem er huldigt
und mit ihm alle oberflächlichen Köpfe und Sklaven des
augenblicklich dominirenden Zeitgeistes. Vorerst glauben
wir unsererseits an die Kraft-Wunder der Herren Virchow
und Genossen ebenso wenig, als an die des Herrn Majunke.
Erst wenn der Kampf um die geistigen Güter der
Menschheit wieder in erster Linie gekämpft wird und
den kläglichen Kampf um ein klägliches Da sein zurückgedrängt
hat, — erst dann möge man uns wieder von der
,.TTnbescheidenheit" der Wunder sprechen. Aber auch das
menschliche Wissen wird dann hoffentlich nicht mehr ein
gar so bescheidenes sein, wie das unserer modernen Philosophen
und Naturforscher, welche die Tendenz verfolgen,
|Alles zu wissen, während sie nichts wissen und nichts
verstehen, als das Begriffs- und Wortedrechseln !u —
Verfasser dieses Artikels würde auch uns zu grossem
Dank verpflichtet haben, wenn er nur etwas näher hätte
andeuten wollen, was er Besseres an Stelle der „Anziehungs-
Kraft" setzen wolle, ohne in den ])lumpen Materialismus
*) Verfasser bezieht sich liier auf Prof. Rudolph Virclioitfs Rede:
„Ueber Wunder," gehalten in der ersten allgemeinen Sitzung der
47. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Breslau am
1^, September 1^74. (Breslau, E. Morgenstern, 1874.) 4 Ngr,
Die Kedaction.
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