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Dr. Nietzsche's „Unzeitgeniässe Betrachtungen." 567
einer erhabeneren Kulturstufe begeisternd zu wirken vermöchten
.
Der atheistische und folglich antispiritualistische Charakter
der Nietzsche1 sehen Weltanschauung, welcher der
Unsterblichkeitsglaube und umsomehr das Hereinragen der
Geisterwelt in die irdische von Grund aus verhasst ist,
offenbart sich im zweiten Stück seiner Schrift deutlich
genug für Jeden, der, von den hochtönenden Redensarten
unverblendet, auf den oft genug sich verrathenden Hinter^
grund seiner Gedanken blickt. Es liegt den Aufgaben der
„Psychischen Studien" zu ferne, auf die Betrachtungen
dieses Stückes: 'Vom Nutzen und Nachtheil der Historie
für das Leben', näher einzugehen. Im Ganzen machen sie
den Eindruck eines vergeblichen Beschwichtigungsversuchs
der innern Verzweiflung, welche stets der Negation anhaftet,
ohne dass sie sich dieselbe ganz gestehen will und nun
auf forcirte Aktion hindrängt, um das Gefühl der innern
Hohlheit, so viel als möglich, los zu werden.*) Dazu wird
eine Menge ?nehr geistreicher als wahrer Gedanken aufgeboten
, die aus einem verdüsterten Gemüth aufquellen,
welches nicht inne wird, woher die Krankheit der Melancholie
kommt. Diese Melancholie hindert den Mann
aber nicht, grimmigen Hass gegen Hegel und Eduard von
Hartmann zu sprühen. Gegen Hegel, weil er der falschen
und überdiess geistlosen Geschichtsauffassung Schopenhauers
eine zwar gleichfalls irrige, aber doch wenigstens geistreiche
gegenüber gestellt hat, und gegen Harlmann, weil er <'en
verhassten Hegel mit Schopenhauer ineinander zu schweissen
versucht hat. Glücklich ist dieser kühne Versuch allerdings
nicht, aber es nimmt sich wie Hass und Eifersucht aus,
wenn Nietzsche die Hartmans'sehe Philosophie als ein
Schelmenstück hinzustellen die Miene macht. Es genügt
Nietzsche nicht, dass Hartmann mit ihm die Persönlichkeit
Gottes und die Unsterblichkeit der Geister verneint und
für den Spiritualismus nur Spott übrig behält; er soll das
Alles auch genau nach der Manier Schopenhauer^ vollbringen
, sonst wird ihm Krieg bis auf (Ins Messer angekündigt
.
Im dritten Stück der „Unzeitgemässen Betrachtungen"
begegnen wir der wundersamsten Verherrlichung Schopen-
*) Aller Fantheismus wie alier Atheismus bewegt sich nur in den
Extremen des Quietismus und des Revolutionismus. In Asien begünstigt
er überwiegend den Quietismus, in Europa überwiegend alles
Revolutionäre. Sollte in Europa der Pantheismus allgemein werden,
was wir nicht glauben wollen, so würde es schliesslich dem Schicksal
Indiens verfallen.
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