http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1876/0363
II. Abtheilung.
Theoretisches und Kritisches.
Die alten Stützen brechen.
Eiue philosophisch-sociale Studie
von
Franz von STemmersdorf.
•
Dem aufmerksamen Beobachter kann es unmöglich entgehen
, dass unsere Zeit sich in einem gewaltigen Gährungs-
prozesse befindet. Nicht als ob nicht alles Leben immerfort
ein flüssiges sei und niemals ein starres werden könne;
denn es gibt ja keinen wirklichen Stillstand, weder in der
g-eistigen Entwickelung der Menschheit, noch in der politischen
Gestaltung des Staates, noch in den socialen Beziehungen
. Die hinter jeder Erscheinung lebende Idee,
welche sich die adäquate Form geschaffen hat, sprengt eben
dieselbe auch wieder, sobald diese zu eng, das heisst inadäquat
geworden ist und ringt, da die Idee als solche ewig
lebt, will sagen, immer wieder erscheinen muss, nach neuer
Gestaltung«
Vollzieht sich der Prozess des Werdens innerhalb der
vom Zeitbewusstsein bereits acceptirten Form, so bringt
diess den Schein verhältnissmässiger Ituhe hervor. Daher
sehen wir Religionen, unbeschadet der innerhalb ihrer niemals
aufhörenden, untergeordneten Kämpfe, ganze Zeitalter
beherrschen. Ein philosophisches System, obschon fortwährend
angefochten, ist doch der normirende geistige Ausdruck
eines bestimmten Zeitmomentes, und eine Regierungsform
, gegen welche ununterbrochen Opposition besteht,
herrscht dessen ungeachtet ihre Periode hindurch.
Zuletzt übersteigt die Summe von Widerstand die
Summe von Bestand; dann bricht das Alte in heftigen
gewaltsamen Erschütterungen unrettbar zusammen. Dem
Menschen, der nur an Sinneswahrnehmungen haftet, erscheint
diess ein Untergang, insofern es ihn practisch schädigend
betrifft, ein Unglück. Der Denker weiss, dass sich nur die
Dynamis des Seins wo anders hingewendet hat. Er weiss,
dass „neues Leben blüht aus den Ruinen."
Der Kirche entschwindet das „praesens numen", die Phi-
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