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Franz v. Nemmersdorf: Die alten Stützen brechen. 357
ungen, bis er sie objectiv und allgemein ausgeprägt sieht
Deshalb kam der Gegenwart ein Werk so willkommen, das
in gebildeter Weise, mit einem Aufwände gelehrter Citate,
ausdrückte, was sie empfand.
Dem Mensehen, dem vollen Menschen ist damit nicht
genügt; die bloss „ästhetische und intellectuelle Auffassung
entbehrt der inneren Harmonie sowohl, als der richtigen
Zwecksetzung, die nur bei der Vernunft, beim göttlichen
Logos gefunden werden können*
Daher das innere Unbehagen, bis in die Kreise selbst
reichend, die eigentlich Brutstätten jener Anschauungen
sind. Daher das Haschen nach phantastischen Meinungen
und nach blossen, ganz äusserlich zusammengehäuften
Notizen. Schliesslich das Gipfeln in einem Pessimismus,
der die Vernichtung der Existenz durch Majoritätsbeschluss
als Endziel der Menschheit setzt. Die Hast, zu dieser
Oonclusion zu gelangen, ist so gross, dass dabei die Begriffsverwirrung
mit unterläuft, einem durch Reflexion vermittelten
Wollen organischen Einfluss zuzuschreiben.
Seltsamer Weise haben sogar orthodox-kirchliche Organe
der Philosophie des Unbewussten nur schwachen
Widerstand entgegengesetzt. Ist es, weil ihre Waffen
stumpf geworden sind? Ist es, weil die alten Stützen
brechen?
Wo aber das Auge des oberflächlich urtheilenden
Menschen nur Untergang sieht, entdeckt das sich vertiefende
des Forschers bereits die Keime neuen Lebens. Es ist in
der Physik ein Gesetz zur Anerkennung gekommen, welches
das „der Erhaltung der Kraft" heisst: nämlich, die Wissenschaft
kennt weder das Verschwinden, noch das Neuauftreten
einer Kraft, sie nimmt bloss die Veränderung der Erscheinung
wahr.
Die Naturwissenschaften vermögen selbst in ihrer
höchsten Entfaltung bloss mit als vorhanden angenommenen
Factoren zu rechnen, wie die ersten Ursachen zu ergründen.
Sie sind im besten Falle fähig, das Weltall mathematisch,
mechanisch, atomistisch zu durchdringen. Der erste geistige
Act gebietet ihnen Halt. Dubois-Reymond sagt: „Bei geistigen
Vorgängen müssen wir bekennen: ignoramus!" und
Hacket, der Verfasser der Schöpfungsgeschichte, versichert:
„Wir können nur Bausteine liefern."
So fällt trotz der Zeiten Ungunst wieder der Wissenschaft
des Geistes, in eigentlichem Sinne, der Philosophie,
die Aufgabe zu, den dunklen Pfad zu beleuchten. Der
Mensch wird sich nie gänzlich von den zwei stillen Mächten
emancipiren können, die alles Leben normiren. Wenn Re-
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