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504 Psychische Stadien. III. Jahrg. 11. Heft, (November 1876.)
oder jene Richtung zu geben. Die Naturtriebe beherrschen
den Menschen und, da sie seine Kindheit geleitet und beschützt
haben, dehnen sie sich auf sein ganzes Leben aus.
werden zu Gewohnheiten.
Erst wenn die Naturtriebe feste Gestalt gewonnen und
den Charakter gebildet haben, entwickelt sicli der Verstand.
Von demselben werden die Naturanlagen oft lange mit Gewalt
unterdrückt, oft ist der Verstand siegreich, aber nocL
häufiger werden die Leidensehaften um so heftiger, je stärker
sie unterdrückt worden sind.
Die Pädagogik bietet hier gewaltige Hilfsmittel zur Bekämpfung
der Naturtriebe, aber wir müssen oft konstatiren.
dass in jedem Menschen eine vorherrschende Disposition
existirt, welche so schwer auf seine Freiheit einwirkt, dabb
bei dem Mangel der Erkenntniss oft der Wahnsinn hervorgerufen
wird, jene Verirrung des Geistes und Negirung de&
freien Willens, welche die Phrenologie allein zu ergründen
im Stande sein dürfte. In dem natürlichen Leben existiren
weder Verbrechen noch Tugenden, sondern nur Unordnungen,
welche fast immer den eigenen Urheber treffen. In der
menschlichen Gesellschaft sind Verbrechen und Tugend
meist in lokalem und socialem Interesse aufgestellte konventionelle
Begriffe, denn es könnten hier sofort eine Menge
von Handlungen aufgezählt werden» welche an dem einen
Orte der Erde, und oft auch nur zu gewisser Zeit, ihre
Strafe und wo anders ihren Lohn finden.
Alle Genossenschaften, mögen das nun Staatsverbände
oder Vereinigungen geringeren Umfanges sein, gehen genau
eben so vor, wie der Mensch.
Kaum eingerichtet, schützen und sichern sie sich dadurch,
dass sie das, was ihnen nützlich erscheint, einführen, das
aber, was ihrem Interesse schädlich ist, zu verhindern
trachten. Indem die Menschen ein System von Gesetzen
und Pflichten herstellen, behaupten sie sich durch die Ver-
theilung der Strafen und Genüsse und stempeln zum Verbrechen
, was die festgesetzte Ordnung stört, zur Tugend,
was dazu dient, sie aufrecht zu erhalten.
Die Menschen und ihre Sitten sind demnach das Resultat
der socialen Einrichtungen und ihres Einflusses.
Die Einbildungskraft übt in Folge dessen über die einzelnen
Menschen und über die Völker im Ganzen eine so
unumschränkte Herrschaft aus, dass sie zur Leidenschaft
werden und die erhabensten Geister trüben kann. Man begegnet
nicht selten Stirnen, auf denen eine hohe Intelligenz
thront, hinter denen aber nur eine mittelmässige oder unfähige
Organisation steckt, und zwar weil das Hinter- und
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