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560 Psychische Studien. IV. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1876.)
1) Der Spiritualismus ist eine rein geistige Bewegung
und schliesst sich in dieser Beziehung anderen in der Ent-
wickelungsgesehichte der Menschheit Epoche machenden
Erscheinungen, der Gründung neuer Weltreligionen fBuddhismus
, Mosaismus, Christenthum, Muhamedanismus etc.),
der Entstehung umfassender philosophischer Systeme (Pla-
tonismus, Aristoielismus, Spinozismus, Kantismus etc.), dem
Auftreten der die Wissenschaft und die TV elt umgestaltenden
Entdeckungen und Erfindungen (Beispiele sind hier überflüssig
) mindestens ebenbürtig an.
2) Der Spiritualismus ist naturgemässe und notwendige
Reaction gegen den zum Gemeingut der Cultur-
welt der Gegenwart und zur Grundlage alles ihres Strebens
gewordenen „Materialismus". Der Gegensatz dieser ist
zwar an sich ein uralter, aber in Bezug auf die Waffen,
mit welchen der moderne Spiritualismus seinen uralten
Gegner bekämpft, ist dessen Bewegung in der Gegenwart
eine neue Erscheinung. Der Spiritualismus kämpft mit
denselben Waffen wie der Materialismus. Er ist nicht
Theorie, Speculation, metaphysische Träumerei, seine Grundlagen
sind Th^tsachen und das Experiment. Den Anspruch
, welchen der moderne Spiritualismus auf Grund
dieser erhebt, ist: dass die neue .,Geistkundea zu einem
integrirenden und abschliessenden Zweige der Naturwissenschaft
erhoben und entwickelt werde. Die neue Geistkunde
ist nicht Auflösung, sondern Erfüllung der modernen
Wissenschaft, sowie sie nach einer anderen Richtung hin
ebenso nicht Auflösung, sondern Erfüllung und Wiedergeburt
der Religion ist.
3) Die grosse, weltbewegende Aufgabe des modernen
Spiritualismus ist: die Wiederherstellung des der Cultur-
menschheit verloren gegangenen Bewusstseins ihres Zusammenhangs
nicht nur, sondern ihrer Einheit mit einem
geistigen Universum, welches sich zu dem materiellen Universum
(dem natürlichen Weltall) wie die Ursache zur Wirkung,
wie das Wesen zur Erscheinung verhält. Indem der Cultur-
welt das Bewusstsein dieses Zusammenhanges abhanden kam,
wurde sie zwar zu einer wunderbaren Entwicklung aller materiellen
Bedingungen des Wohlbefindens befähigt, geriethaber
zugleich auf alle die Abwege, zu welchen die Verneinung der
geistigen Bestimmung alles Lebendigen unabänderlich führt,
und an deren Folgen wir die gesammte Menschheit der
Gegenwart in allen Formen ihres Gemein- und Einzellebens
kranken sehen. Nur durch die Wiedergeburt zum Bewusstsein
ihrer idealen, über das Pljysisehe hinaus liegenden
Bestimmung kann die Menschheit gesunden. Die Be-
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