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108 Psychische Studien. V, Jahrg. 3. Heft. (März 1878.)
über die Jahre hinaus, wo man in dergleichen von Fleisch
und Blut Rath annimmt; wenn ich mein L e 1) e n an eine
Sache setze, so thue ich es in demjenigen Glauben, den ich
mir in langem *und schwerem Kampfe, aber ehrlichem und
demüthigem Gebet vor Gott gestärkt liabe, und den mir
Menschen-Wort, auch das eines Freundes im
Herrn und eines Dieners seiner Kirche, nicht
umstösst."*)
"Wenn dieser moralische Muth in jedem Einzelnen
von uns erst wieder erwacht sein wird und das geüügelte
Wort des Fürsten Bismarck: „der Appell an die Furcht
findet in deutschen Herzen keinen Widerhall!" nicht
nur durch nörgelnde Reden, sondern auch durch
sittliche T h a t e n auf dem Gebiete der Literatur und
Wissenschaft bethätigt sein wird, dann wird Hi\ Virchow
den ,,Simplicius Simplieissimus" von Grimmelshausen**) lesen
und in der in ihm enthaltenen Prophezeihung desselben
einen schönen Beweis erblicken, dass der ideale Sinn des
deutschen Volkes selbst in den Zeiten seiner tiefsten Schmach
und Erniedrigung, mitten unter den Gräueln des dreißigjährigen
Krieges, nicht die Hoffnung auf bessere Zeiten
und den Glauben an den endlichen Sieg der gesunden
Vernunft rnd des deutschen Gemüthes über doctrinären
Egoismus und gelehrte Eitelkeit aufgegeben hat.'* —
*) Vgl oben S. 3^2 meiner „Wiss. Abhandl." (Quellen-Angaben*)
**, Hr. Tirchow ei klärte am 16. März 1876 im Preussischen Abgeordnet
en hause: „Ich bin selbst so unglücklich gewesen, diess Buch
auf Grund jen^r Empfehlung zu kaufen, und war selten so erschreckt
wie beim Lesen des Inhaltes desselben. Ich wusste nicht, wie ich es
geheim halten sollte, damit es keinem Mitgliede meiner Familie in die
Hände fiel." Kürzlich erklärte Hr. Virchom: „Das muss die Nation
in sich aufnehmen, das muss sie verzehren und verdauen,
daran muss sie nachher weiter arbeiten .... alles dieses basirt
wesentlich darauf, dass wir Männer der Wissenschaft die Lehrsätze
vollkommen fertig machen." — Vgl. Virchonfs Rede über „die Freiheit
der Wissenschaft im modernen Staat", gehalten 22. Sept. 1877, Naturforscherversammlung
in München (S 8).
Ich erlaube mir Hrn. Virchow hierauf zu erwidern, dass zwischen
„Freiheit" und „müssen" ein Widerspruch existirt und dass sich
anter den von ihm „vollkommen fertig gemachten Lehrsätzen" einige
befinden, welche der gesunde Magen der deutschen Nation niemals
„verdaut". Wenn sie aber dieselben einmal „verzehren muss",
so bleibt ihr nichts anderes übiig, als sie wiederzukäuen, was eine
Bitterkeit im Herzen gegen diejenigen „Männer der Wissenschaft"
zurücklässt, welche unsere Nation und ihre grossen Staatsmänner zu
der erniedrigenden Rolle von Wiederkäuern degradiren wollen.
„Der V/ahn des Fortschritts ist Rückschritt im Fortschritt!"
sagte Heraklit schon vor 2400 Jahren. (Vgl. Fragmente des Hemklii
von P. Schuster\ S. 72.)
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