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296 Psychische Studien. VI. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1879.)
graphisch mit ihrem verstorbenen Mann sich zu unterhalten,
was ihr schon oft gelungen sei. Aber diesmal schrieb der
Stift nicht den gewünschten und erwarteten Namen, sondern
mit fremder Schrift, welche sie sogleich als die Sophiens
erkannte, komische Worte der Unzufriedenheit über die
nicht gemachte Aufgabe auf das Papier. .Frau V. zeigte
nun dieses, und Sophie überzeugte sich, dass es ihre Schrift
und auch die von ihr gebrauchten Aasdrücke waren, wobei
sie versichert, dass Frau V. eine wahrheitsliebende, jeder
Täuschung abgeneigte Frau sei.
Drei Tage vor dem Tode ihrer geliebten Mutter, 9. April
1 <s58, theilte der Arzt Sophien mit, das Leben der Theuern
könne nur noch wenige Tage dauern. Sie setzte sich neben
das Bett der schlummernden Kranken und dachte in ihrem
Schmerze lebhaft an Bruder Daniel, damals zu Lettewitz in
Mähren stationirt, und sprach leise vor sich hin: „0 Daniel,
unsere gute Mutter wird sterben!" Einige Tage später
theilte ihr Daniel mit, er sei am selben Tage ungefähr um
die nämliche Stunde auf der Bahnstrecke gegen Brüsau
gegangen, als er Sophien s Stimme hörte, welche lispelnd, doch
unverkennbar mit tiefem Weh, ihm obige Worte sagte. —
Im gleichen Jahre war & 14 Tage auf Besuch bei diesem
Bruder zu Triebitz in Mähren gewesen und fuhr von dort
am 9. August nach Lettowitz, gerne einer Einladung des
dortigen Stationschefs Z. folgend, eine Woche in seiner
Familie zu verweilen. Beim Abschied von Daniel hatte sie
ausdrücklich erklärt, am 13. oder 14. von Lettowitz nach
Wien zurück zu kehren. Aber auf der Fahrt nach Lettowitz
überfiel sie eine lebhafte Sehnsucht nach den Ihrigen
in Wien, und obschon von der Familie Z., namentlich den
liebenswürdigen Töchtern freudigst und herzlichst empfangen
konnte sie jene Sehnsucht nicht unterdrücken und erklärte
schon am nächsten Morgen ihren festen Entschluss, noch
heute nach Wien zu reisen, von welchem sie auch die
freundlichsten Vorstellungen nicht abbrachten. Sie trat
daher gegen die mit Daniel getroffene Verabredung ihre
Reise von Lettowitz nach Wien schon am 9. August an.
Nach 6 Uhr Abends, als der Zug die Station Floridsdorf
passirt hatte und auf die Donaubrücke gelangt war, hielt
derselbe plötzlich an, man hörte Schreckensrufe vom Zugpersonal
, rief die Condukteure, welche mit bleichem Gresicht
verkündeten, die Lokomotive sei entgleist und es müsse um
eine andere nach Wien telegraphirt werden. Alles stieg
aus, auch Sophie, welche auf der Brücke vorwärts ging, wo
sie mit Entsetzen sali, dass die Lokomotive gegen den
Rand der eben hier geländerlosen Brücke entgleist war
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