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438 Psychische Studien. VII. Jahrg. 10. Heft. (October 1880.)
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die Intelligenz an, die, ohne ein Wort zu sagen, durch,
zweckmässige Mittel der Didaktik allein ihr Ziel stets erreichte
. Ich lernte nach mannigfachen Vorübungen Buchstaben
schreiben, in ihren Formen ganz verschieden von
dem gebräuchlichen Ductus und meiner Handschrift. Aus
den geübten Buchstaben wurden alsbald Wörter gebildet,
die als Schreibübung seitenlang wiederholt wurden. Bald
kamen Wortverbindungen and kleine Sätze, dazwischen neue
Buchstaben oder auch früher geübte. Beim Niederschreiben
von Sätzen war jeder grosse und stumme Buchstabe ausgeschlossen
und für verschiedene kleine nur eine einzige
Form angewendet, so dass z. B. die Worte: „Mein liebes
Kind" folgendermaassen aussahen: „nmn Ulis und". Diese
,,Uebung" sehrieb ich stundenlang, ohne zu fragen und zu
begreifen, warum? Am Montage Vormittag aber wurde mir
Licht. Nachdem ich abermals diesen holden Ausdruck
niedergeschrieben, floss plötzlich der Satz aus meiner Feder:
,,TJnd merkst du, mein liebes Kind, noch nicht, wer ich
bin? Ich bin deine Mutter!" Da male man sich meine
Freude selber. Ich war überrascht und überglücklich ob
dieser Kunde, vermochte meine Freude nicht langer allein
zu tragen, wollte all das Herrliche den Meinigen mittheilen
und fuhr an genanntem Tage fröhlichen Herzens nach Hause.
Meine Heimat ist die liebliche Hügellandscbaft der
Lausitz. Mein Heimatdorf Spitzkunnersdorf liegt 2 Stunden
in nordwestlicher Sichtung von Zittau entfernt. Mehrere
Felskuppen erheben sich in seiner Nähe, und eine kleinere,
am Fusse bewaldet, tritt auf südlicher Seite sehr nahe an
das Dorf heran. Von meinem väterlichen Hause gelangt
man über Felder in wenig Minuten auf den Berg; er ist
als „Forsten" im Volksmunde bekannt und als herrlicher
Aussichtspunkt das gewöhnliche Ziel für die, welche sich im
Freien ergehen. In dem Walde rings am Fusse liegen von
Bäumen verdeckt eine Menge kleinerer Felsen, die, wenig
bekannt und wenig besucht, als ehemaliger Aufenthalt von
ßäubern unter den Leuten in üblem Rufe stehen. Auch
ich habe als Kind einen unheimlichen Eindruck über diese
Oertlichkeit empfangen, wie ich überhaupt von grosser
Furchtsamkeit gewesen bin.
Bei meiner Ankunft zu Hause war es nun die erste
Sorge, den Meinigen meine Erlebnisse mitzutheilen. In
kurzen Worten sagte ich ihnen, dass icli auf eine Anfrage
eine Nachricht aus dem Jenseits erhalten habe, sowie dass
meine Mutter durch meine Hand schriebe. Die Ueber«
raschung war gross; der Eindruck war ein Gemisch von
Ehrfurcht, Angst und zweifelnder Bewunderung, ganz wie
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