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226 Psychische Studien. VIII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1881.)
durch Zufall oder fremde Bosheit auf ihn kommende Leiden
willkommen, jeder Schaden, jede Schmach, jede Beleidigung;
er empfängt sie freudig, als die Gelegenheit, sich selber die
Gewissheit zu gehen, dass er den Willen nicht mehr bejaht,
sondern freudig die Partei jedes Feindes der Willenserscheinung
, die seine eigene Person ist, ergreift. Er erträgt daher
solche Schmach und Leiden mit unerschöpflicher Geduld
und Sanftmuth, vergilt das Böse ohne Ostentation mit
Gutem und lässt das Feuer des Zornes so wciJg als das
der Begierde je in sich wieder erwachen. Wie den Willen
selbst, so mortificirt er die Sichtbarkeit, die Objektivität
desselben, den Leib: er nährt ihn kärglich, damit sein
üppiges Blühen und Gedeihen nicht auch den Willen, dessen
blosser Abdruck und Spiegel er ist, neu belebe und stärker
anrege. So greift er zum Fasten, ja er greift zur Kasteiung
und Selbstpeinigung, um durch stetes Entbehren und
Leiden den Willen mehr und mehr zu brechen und zu
tödten, dea er als die Quelle des eigenen (und der Welt)
leidenden Daseins erkennt und verabscheut. Kommt endlich
der Tod, der diese Erscheinung jenes Willens auflöst,
dessen Wesen hier durch freie Verneinung seiner selbst,
schon längst bis auf den schwachen Rest, der als Belebung
des Leibes erschien, abgestorben war; so ist er als ersehnte
Erlösung hoch willkommen und wird freudig empfangen.
Mit ihm endigt hier nicht, wie bei Andern, bloss die Erscheinung
, sondern das Wesen selbst ist aufgehoben, welches
hier nur noch in der Erscheinung und durch sie ein schwaches
Dasein hatte; welches letzte mürbe Band nun auch zerreisst.
Für den, welcher so endigt, hat zugleich die Welt geendigt.
Indessen dürfen wir doch nicht meinen, dass, nachdem durch
die zum Quietiv gewordene Erkenntniss die Verneinung
des Willens zum Leben einmal eingetreten ist, sie nun nicht
mehr wanke, und man auf ihr rasten könnte wie auf einem
erworbenen Eigenthum. Vielmehr müssen die noch steten
Kämpfe immer aufs Neue errungen werden. Denn da der
Leib der Wille selbst ist, nur in der Form der Objektivität,
oder als Erscheinung in der Welt, als Vorstellung, so ist,
solange der Leib lebt, auch noch der ganze Wille zum
Leben seiner Möglichkeit nach da und strebt stets in die
Wirklichkeit zu treten und von Neuem mit seiner ganzen
Gluth zu entbrennen. Daher finden wir im Leben heiliger
Menschen jene geschilderte Ruhe und Seligkeit nur als
Blüthe, welche hervorgeht aus der letzten TJeberwindung
des Willens, und sehen als den Boden. auf welchem sia
entspriesst, den beständigen Kampf mit dem Willen zum
Leben: denn dauernde Ruhe kann auf Erden Keiner haben,
(Fortsetzung folgt.)
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