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32 Psychische Studien. IX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1882.)
Wittwen und jenen unglücklich gefallenen Wesen sagen, die
oft durch einen einzigen Fehltritt ihr Erdenleben in hoffnungslosem
Schmerze dahinbringen?
Hier würde, wenn es kein ewiges Leben gäbe, das
Wort „Ungerechtigkeit" allerdings eine Berechtigung finden!
— denn die Obenerwähnten würden ohne Entschädigung
zu leiden haben; sie würden theilweise zum Vergnügen Anderer
auf der Welt sein, um mit dem Tode der Vergessenheit
anheim zu fallen. Ja selbst die orthodoxe Lehre der
„Erlösung" würde einen schlechten Trost gewähren, wenn
es kein persönliches Fortleben nach dem Tode gäbe. Wahrscheinlich
glaubte hier Allan Kardec diese anscheinend schwierige
Frage durch eine nochmalige Wiederverkörperung der
Seele lösen zu müssen.
Bleiben wir nun einen Augenblick bei der Theorie
derErlösung stehen, die so viele Denker beschäftigt hat.
Jesus ist als unschuldiges Opfer gefallen, um den Zorn
Gottes zu beschwichtigen und uns dadurch die Erlaubniss
zu geben, durch dieses Opfer in den Himmel zu kommen.
Unser Selbst- und Gerechtigkeitsgefühl will aber nicht durch
das Verdienst eines Andern in den Himmel kommen; es
opponirt dagegen, das Gewand eines Lammes arzuzieben,
um dadurch in die Gemeinschaft Gereinigter eintreten zu
können; denn eine gerechte Vernunft ist sich vollkommen
bewusst, dass, wenn wir uns so in einen Platz einschleichen,
wir uns in dieser engelreinen Atmosphäre und Umgebung
gar »licht behaglich fühlen können; denn wir würden nur
Fremdartiges für unsere Gedanken finden und würden uns
in der Gesellschaft von lauter Tugend sehr unglücklich
fühlen, weil wir herausfinden, dass wir uns an einem Orte
befinden, wo wir gar nicht hingehören. Wir würden finden,
dass wir es gar nicht verdient haben, dass ein Unschuldiger
für uns geblutet hat und am Kreuz gestorben ist. Wir würden
somit Gott für diese Liebe gar nicht danken, der seine Majestät
der Gerechtigkeit so verletzt, dass er alle ursere
Sünden auf Einen wälzt. Was würden wir von einem Lehrer
sagen, der einen unschuldigen Lieblingsschüler bezeichnen
würde, der alles, was die Anderen Unrechtes thun, auf sich
nehmen müsste? Könnten wir einen solchen Lehrer ach en,
der einen Unschuldigen für die Schuldigen büss en lsst ?
Wir würden sagen: „Er hat das Prinzip der Gerechtigkeit
verletzt und untergräbt das moralische Gefühl; er ist ein
Tyrann, der die Tugend zur Karrikatur herabwürdigt."
Daher kommt es auch, dass das uns angeborene Gerechtigkeitsgefühl
sich nur für solche ßedner und Schriftsteller
begeistert, die verkünden, dass jede Seele nach eigenem
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