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180 Psychische Studien, IX. Jahrg. 4. Heft. (April 1882.)
Dann erscheint er, reicher, schöner, seit er aus dem Lehen schied; —
Denn wohl schweigt des Todten Lippe, doch es spricht und lebt sein
_ Lied!*)
*) Wir schliessen uns von Herzen diesen goldenen, echt poetischen
Worten an. Sie erbauen uns eine siebenfarbig »eLimmernde Hegen«
bogenbrücke der Hoffnung einer vielleicht dereinstigen Verbindung
des Diesseits mit dem Jenseits. Sie selbst predigen mit der Aufforderung
: „Gehet denn, ihn zu beschwören!" keineswegs etwa die direct
zu suchende Hervorlockung mediumistischer 6W//?<?-Offeubarungen, nach
dem bequemen Hexenspruche: „Wer nicht denkt, dem wird's geschenkt,
er hat es ohne Sorgen!" — sondern vorläufig nur das rieferernste und
fleissige Studium seiner uns zugänglichen hinterlassenen Werke. Wie
wir speziell zur Frage der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit einer
solchen Geistoffenbarung Goethe's stehen, haben wir bereits in unserem
Artikel: — „Eine Berichtigung des Kladderadatsch über Goethe's me-
diumistischen Spruch: 'Lobe Gott, es lebt der Geist— im Januar-
Hefte 1880 der „Psych. Studien" des Näheren erörtert. Eine grössere
Beweiskraft als die einer höchst wahrscheinlichen Vermuthung vermögen
aber auch wir dem dort berichteten Erlebnisse nicht beizulegen,
da Verfasser dieses doch selbst im Leben bewusst schon mancherlei
Verse geübt und verbrochen hatte, so dass diese Verse immerhin auch
unbewusst dem im magnetischen Cirkel erregten poetischen Quell
seiner eigenen „Psyche" entsprudelt sein könnten.
Wir besitzen ein Jeder schon ein bestimmtes geistiges Erinnerungsbild
von Goethe*s dichterischem Schaffen und Wirken in uns, nach
welchem allein schon unsere „Psyche" im magnetischen Zustande poetisch
miterregt und zu einer ähnlichen Nachahmungsdarstellung gebracht
werden kann, ohne dass wir den leibhaftigen Geist Goethe's
nöthig bei solchen Versen haben. Der transcendente Geist Goethe's
hat sie schwerlich selbst in leibhaftiger Gegenwart und Gestalt niedergeschrieben
, sondern höchstens hat er unsere in seelischem Rappoit
verbundenen Gemüther nur geistig angeregt oder inspirirt. Etwas
„inspiriren" heisst aber in diesem Fall nicht, etwas leibhaftig
selbst „ausführen". An sein überirdisches, transcendentes Geisterleben
und jenseitiges Weiterwirken glauben wir aus philosophisch
- und theosophisch-zwingenden Gründen ganz entschieden; nur
bescheiden wir uns in der überschwenglichen Erwartung, der Geist
Goethe's werde leibhaftig selbst (in propria persona) in unseren kleinen
Cirkel herniedergestiegen sein, um eines ihm so fern liegenden Aalasses
halber ein zwar frappantes, aber doch immerhin noch nicht
genügend beweiskräftiges Epigramm durch einen Cigairenkistendeckel
loszulassen. Diese Zweifel der Mitthätigkeit unserer eigenen „Psyche"
werden wir nicht eher beim Studium dieser mediumistischen Erscheinungen
loswerden, als bis die transcendenten Geister es ermöglichen
dürften, ihre Gedanken und Gefühle in vollkommen fertigen Schriften
direct vom Himmel in unsere Hände fallen zu lassen, wobei unsere
organisch-leibliche und psychische Cirkel-Mitwirkung nach aller logischdenkbaren
Möglichkeit vollkommen ausgeschlossen erscheint. So lange
Medien und Cirkel ihre intelligenten „Psychen" dabei mit im Spiol
haben und so lange die angeblichen Geister derselben nur solchen
Cirkeln allein und von dem Medium total abhängig, bei geschlossenen
Thüren, und nicht auf offenem Markte des Lebens frei und selbstthätig
aller Welt erscheinen, wie es doch in der eigensten Natur eines solchen
wirklich selbstbewussten jenseitigen Geistes liegen müsste, falls er uns
über Höheres belehren wollte, so lange wird streng wissenschaftlicher
Zweifel Uber die subjective, rein erd-psychische Entstehungsweise
dieser Phänomene unseres unmaassgeblichen Erachtens auch bei
nichtskeptisohen und ehrlichen Forschern nicht aussterben. Gr. C. W.
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