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220 Psychische Studien. IX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1882.)
alle körperhaft von aussen in sie hineinfallenden Sehbilder
auch nur körperhaft von ihr empfunden werden. Nur ihr
Sehorgan würde immer bloss eine halbe Relieffläche einer
Körperform wahrnehmen, sie selbst aber würde vom in sie
einfallenden Körpergebilde mehr innere Qualitäten in sich
haben und empfinden können, als das Gesichtsorgan zur
Abspiegelung bringt. Daher sieht und empfindet unsere
Psyche bei einem Sehbilde unendlich mehr , als wir mit
unserer bloss abstracten Flächenanschauung vermuthen und
uns erklären können.
Da aber unsere Psyche nicht bloss Seh- sondern auch
eine Menge anderer Sinnesorgane in ihrem ganzen Nerven-
bau vertheilt hat, so darf es uns nicht Wunder nehmen,
dass von allen Seiten Licht- und Aether-Schwiagungsbilder
körperhaft in sie eindringen und sie somit Qualität und
Quantität der Dinge zugleich zu fühlen, zu empfinden und
wahrzunehmen vermag. Diese auseinander gefalteten, gleichsam
urgetheilten Unterscheidungs-Sinne und Sinneseindrücke
fasst sie durch ein besonderes Organ oder Vermögen wieder
in eine Einheit des Selbstbewusstseins zusammen und stellt
sich die letzteren (die Sinneseindrücke) selbst innerlich
gegenständlich vor und sucht sie (die auseinander geschauten)
auf einander zu beziehen und zu ihrer ursprünglichen Einheit
im Urtheile und Schlüsse wieder zu verbinden.
Dadurch wird sie zum selbstbewussten Ich, zur individuellen
Persönlichkeit, welche das durch die Sinnesorgane Urgetheilte
nun wieder als Gemeinsames fühlt und weiss. Das ist die
natürliche Vorgeschichte der Psyche im Kinde, ehe dasselbe
zum Ichbewusstsein gelangt. Da aber letzteres immer nur
ein bestimmtes Object in seiner einheitlichen Beziehung zu
allen übrigen zeitlich und räumlich im Auge haben und
zum augenblicklichen Selbstbewusstsein bringen kann, so ist
das Bewusstsein der Psyche in seiner sinnlich auseinander
gelegten und weitverzweigten Vielseitigkeit dem Selbstbewusstsein
ebensoviel überlegen, wie die einzelnen Colonnen
eines Heeres in ihren verschiedenen Fühlungen mit dem
Feinde jede an sich ein besseres Bild der Sachlage für
sich haben, als der im entfernten Hintergunde befindliche
und sie erst auf ihren Rapport nach seinem Plane dirigirende
Feldherr. Nur in einer Hinsicht ist der Feldherr seinen
Truppentheilen überlegen, insofern er alle auf die erstatteten
Berichte hin überschauen und somit lenken kann; — sein
Sieg oder seine Niederlage aber werden von der Treue
und Zuverlässigkeit dieser Einzelberichte wesentlich beein-
flusst sein. Gr. C. Wittig.
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