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338 Psychische Studien. IX. Jahrg. 8. Heft. (August 1882.)
I. Fall.
Es ist meine eigene Mutter, welche mir die in nachstehenden
Zeilen aufgezeichneten Thatsachen mittheilte. —
Die einzige Tochter eines vornehmen Mannes in Hamburg
war gestorben und sollte beerdigt werden. Den Leichen-
conduct sich anzusehen, war meine Mutter nach dem Sterbehause
gegangen. — Hier inuss ich bemerken, dass meine
Mutter in oberflächlicher Beziehung zu der Verstorbenen
gestanden hatte und mir diese als ein herrschsüchtiges,
boshaftes Geschöpf schilderte, die eben dieserhalb ziemlich
isolirt dagestanden und kaum mit irgend Jemand Umgang
gehabt hätte; dieses wurde auch gewissermaassen am Tage
ihres Begräbnisses bestätigt, indem nur ein Wagen, in
welchem ihr Vater sass, dem Sarge folgte. — Kaum begann
sich jetzt der Conduct in Bewegung zu setzen, als
die Pferde des Leichenwagens heftig scheuten, zur Seite
sprangen und nicht vorwärts woilten, obgleich ein sie erschreckendes
Hinderniss nicht zu sehen war; nach vielen
Bemühungen gelang es endlich dem Kutscher und einigen
der Träger, die zitternden Pferde mit Gewalt über den
Platz, welchen sie nicht zu überschreiten gewagt, zu bringen;
nun gingen sie ruhigen Schritts weiter.
Als jetzt die Equipage an eben derselben Stelle angelangt
war, bäumten sich plötzlich die beiden feurigen Pferde
hoch auf und warfen heftig schnaubend und stampfend den
Wagen hin und her; die Situation war eine derartig gefährliche
, dass der Vater schleunigst den Wagen verliess
und zu Fuss weiter folgte. Die Pferde aber rissen trotz
aller Gegenbemühungen des Kutschers die Equipage herum
und gingen, in eine Nebenstrasse einbiegend, durch. —
Es darf wohl mit Bestimmtheit angenommen werden,
dass die Pferde ein gespenstisches Etwas wahrgenommen
haben,*) obgleich Menschenaugen nichts sahen; von einer
gestaltenbildenden psychischen Kraft irgend eines Menschen
kann hier auch keine Rede sein, vielmehr schreckte die
Thiere irgend eine Erscheinung, vermuthlich der Geist des
verstorbenen jungen Mädchens; ich bemerke nochmals,
dass eine physische Ursache, Geräusch oder dgl. nicht
vorhanden war.
*) Dies müssen wir für den vorliegend berichteten Fall denn
doch noch bescheiden bezweifeln: sollten Pferdeaugen wirklich Geister
besser sehen als Menschenaugen? Wir haben noch keine positiven
Beweise datür. Wie viele von durchgehenden Pferden und anderen
vor einem uns unbekannten Etwas scheuenden Thieren verursachte
Unglücke könnte und müsste man dann micht Geistern in die Schuhe
schieben! — Die Red.
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