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340 Psychische Studien. IX. Jahrg. 8. Heft. (August 1882.)
zimmer und dort die Fenster standen auf, während die
Thür nach dem Corridor angelehnt war; sein Hund lag
neben ihm vor dem Sopha. Hell schien der Mond ins Zimmer.
Mein Schwiegervater hatte sich kaum niedergelegt und,
da er noch durchaus nicht müde war, mit offenen Augen
dagelegen, als die Corridorthür sich leise öffnete. Er, in der
Meinung, seine Frau käme noch herein, sagte: „Du brauchst
nicht so leise zu sein, ich wache noch!" — Nun schwebte
aber durch die jetzt geöffnete Thür ein unbestimmtes Etwas,
welches, als es in den hellen Mondschein gelangte, von ihm
als die „verklärte" Gestalt seiner vor gut 2 Jahren verstorbenen
Mutter erkannt wurde. —
Die Erscheinung blickte ihn freundlich an und stand
dann dicht vor ihm. Der Hund hatte sich sofort beim
Eintreten des Geistes unter dem Sopha verkrochen, und
mein Schwiegervater war aufgestanden.
Die Erscheinung redete freundlich zu ihm, reichte ihm
die Hand und gab ihm schliesslich einen Kuss auf den
Mund; dann sagte sie noch: „Ihr müsst mir nicht immer
die Blumen von meinem Grabe holen, wisst ja, dass ich sie
so liebe!" — Nun nahm sie Abschied, ging durch das Sopha,
hob ein über demselben hängendes Familienbild von der
Wand ab, bewegte sich zwischen meinem Schwiegervater
und der Wand durch, schwebte dann ins Nebenzimmer
und, wie es ihm schien, zum offenen Fenster hinaus. —
Mein Schwiegervater sass auf dem Sopha und blickte staunend
der Gestalt nach; deir Hund aber kam, als sie gegangen,
dumpf winselnd hervor, sprang zu ihm hinauf und schmiegte
sich fest an. Meinen Schwiegervater überfiel jetzt Entsetzen
und Grauen; er zitterte vor Kälte und presste, um nur
etwas Lebendiges zu fühlen, den Hund an sich, ging dann
zu seiner schon schlafenden Frau, weckte diese und erzählte
ihr das soeben Erlebte; blieb auch dann die Nacht bei ihr.
Als er nach einigen Tagen das von seiner Mutter berührte
Bild von der Wand nahm, entdeckte er eine schwarze
Stecknadel, die in der Kückwand stack. Ob diese sich dort
schon früher befunden, wusste er freilich nicht zu sagen,
bemerkte mir aber noch, dass seine Mutter im schwarzen
Kleide beerdigt und dieses mit mehreren schwarzen Nadeln
befestigt oder aufgesteckt worden war.
Was für mich diese Geistermanifestationen doppelt
interessant macht, ist, dass, da mein Schwiegerpapa im
Uebrigen ein grosser Materialist und wüthender Skeptiker,
Büchner sein Prophet und Büchner1 s „Kraft und Stoff" sein
Evangelium ist, es sehr nahe läge, wenn er diese Erscheinung
für Hallucination oder gar einen gewöhnlichen Traum
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