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352 Psychische Studien. IX. Jahrg. 8. Heft. (August 1882.)
keit des intelligenten Publikums gegenüber dem Gottesdienst
und den Lehren der Kirche bemerken. Diejenigen,
welche Gelegenheit hatten, den intellectuellen Zustand des
Landes zu beobachten, behaupten, dass der Unglaube sich
vermehre. Was schlägt nun die Kirche in dieser Angelegenheit
zu thun vor? Von ihrem ernsten Willen zeugt
wenigstens die Thatsache dieser öffentlichen Erörterung des
Gegenstandes. Bis die Thatsachen der geistigen Existenz
bewiesen worden sind, gleichwie dem Petrus, welcher seinen
Herrn und Meister verleugnete, bedürfen wir Beweise, und
gleich dem Thomas begehren wir, unsere Finger in die
Nägelmale zu legen. Wenn Beweise nöthig waren, um den
Glauben in den Herzen der Apostel zu begründen, so sind
solche auch heute noch nöthig, um seine Ansprüche an die
Erfahrung der gegenwärtigen Generation zu erproben. Das
Gebäude kann sonst nicht aufrecht erhalten werden. Es
wird in Stücke zerfallen ohne die innere belebende Kraft
des Geistes. Engherzige Glaubensbekenntnisse und Cere-
monien können nicht ewig die Gemüther der Menschen
fesseln und beeinflussen.
Deshalb ist der Moderne Spiritualismus als eine göttliche
Notwendigkeit der Zeiten erschienen. Er kommt
nicht, das Gesetz und die Propheten zu zerstören, sondern
vielmehr das Vorhergehende zu erfüllen und die Möglichkeit
geistigen Wachsthums und geistiger Kraft im Herzen des
Menschen noch mehr zu fördern. Die aussergewöhnlichen
Gaben des Heilens, des Sprechens und Prophezeiens, welche
die Begründer der Kirche übten, entwickelten die Oberhoheit
der geistigen über die zeitliche Welt. Die Blinden
wurden sehend, die Kranken gesund und die Stummen
redend gemacht. Eine Fülle himmlischer Wunder wurde
uns offenbart durch inspirirte Sprecher. Diese so ausserordentlichen
und wunderbaren Geistesgaben wurden für alle
Zukunft der Kirche verheissen. Christus sagte zu seinen
Jüngern: „Noch grössere Werke werdet Ihr thun, denn
ich gehe zu meinem Vater."
Es liegt daher nichts Widersprechendes in den Ansprüchen
des Modernen Spiritualismus und denen des Christenthums
. Der eine ist der Ausdruck und die Entwickelung
des anderen. Das, was in der Erscheinung möglich war im
ersten Christenthum, muss ebenso nöthig und möglich sein
heut zu Tage. Nirgends wurde erklärt, dass diese Gaben
der Kirche entzogen seien. Wenn die Kirche sie im Anfange
hatte, so ist sie Besitzerin derselben noch bis heut.
Die Barche verlieh sie nicht im Anfange, die Kirche kann
sie daher auch nicht wegnehmen. Die Heilung der Kranken
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