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Ein Traumgesicht und eine Erscheinung im wachen Zustande. 377
zu nehmen und mich bei meinem Vater zu lassen, um ihm
den Kummer zu ersparen. Deshalb werde ich oft bei
Ihnen sein, Sie beschützen und Sie dereinst dahin führen,
wo ich jetzt weile!"
Es kam nun ein sonderbarer Zustand über mich. Mir
war so wohl, so leicht. Er erfasste mich und trug mich
fort. Immer höher ging es; war es ein Schweben, ein
Fliegen? ich weiss es nicht. Mir fiel das bekannte Bild
von Kaulbach ein, von dem Engel mit dem Kinde — und
äusserte ich dies auch zu ihm, worauf mir die Antwort zu
theil wurde: „Beinahe ist es auch so!" Dies Schweben
oder Fliegen durch einen unendlichen Raum, wo uns aber
stets Nebel umgab, dauerte lange, und schliesslich führte
er mich an einen hohen, sehr hoch gelegenen Ort; unter
uns ein unabsehbares Wasser, über uns ein Anblick, —
so erhaben, so überirdisch schön, dass ich die Augen
schliessen musste, weil ich den Glanz nicht ertragen konnte.
Eine Sonne bei der anderen, ein Stern beim andern, aber
grösser und strahlender, wie wir Sterblichen sie am Himmel
sehen. Da wollte ich bleiben, dort war ich glücklich,
aber — nur sehen sollte ich, und zwar nur ein Etwas
von der Pracht, die uns einst erwartet. Er sagte mir
dies und fügte hinzu, dass meine Augen noch nicht reif
seien für die Herrlichkeiten des Jenseits. — „Jetzt geleite
ich Sie zurück", sagte er mir; „doch später komme
ich und hole Sie; dann bleiben Sie bei mir." Dann fragte
er mich, ob ich den Gruss von ihm, ein sichtbares Zeichen
von ihm gefunden hätte? Und als ich nicht wusste, was
er meinte, setzte er hinzu: „Auf meinem Grabe werden
Sie, als Gruss von mir, Ihre Lieblingsblume finden!"
Dann verschwand er im Nebel, und ich erwachte und
fühlte mich erschöpft und angegriffen. Trotzdem stand
ich auf, sah nach der Uhr; es fehlten drei Minuten an ein
Uhr. Ich schrieb das auf, was er zu mir gesprochen, um
nichts zu vergessen und um seinem Vater Alles mittheilen
zu können.
Den nächsten Tag ging ich nach dem Kirchhof zu
seinem Grabe. Merkwürdig! Mein Treppendrücker passte
zu seinem Erbbegräbniss, sonst hätte ich nicht hinein gekonnt
. Ich suchte nun auf dem Hügel nach meiner Lieblingsblume
, dem Vergissmeinnicht, fand aber nichts, ging
wieder fort und dachte: „Träume — sind doch Schäume!"
Da mit einem Male ruft eine Stimme ganz deutlich mir
zu: „Kehre schnell zurück und hole Dir den Gruss von
ihm!" Ich wollte nicht wieder umkehren, doch war mein
Fuss wie gebannt, ich konnte keinen Schritt vorwärts thun;
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