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168 Psychische Stadien. X. Jahrg. 4. Heft. (April 1883.)
3 L i 1 i e n in einem Keller unter dem reservirten Garten
Ludwig's XVI. mit diesem berüchtigten und damals verschwundenen
Halsbande der Königin aufgefunden
worden sein soll! Wenn Herr Aurelian Scholl, welcher diese
Nachricht im „Ev£nement" zuerst gebracht hat, die Welt
nicht bloss mystificirt hat, so wäre mit dieser Entdeckung
erwiesen, dass nicht bloss Cagliostro, sondern auch der verleumdete
Cardinal Rohan, dessen Erben noch heute zur
Abzahlung der Schuld dieses 1,800,000 Livres kostenden
Schmuckes verpflichtet sind, am meisten aber jene unglückliche
und schauderhaft gebrandmarkte Gräfin Lamothe, welche
im Bunde mit Anderen die Edelsteine dieses Halsbandes
ausgebrochen und nach England verkauft haben sollte, in
dieser Hinsicht vollkommen unschuldig wären und das
Geheimniss der Sache doch bei einem Mitgliede der königlichen
Familie selbst gesucht werden müsste!
Und hätte Cagliostro wie ihn oben genannte Gegner
weiter beschuldigen, wirklich im heimlichen Dienste des
Jesuitismus oder Borns gestanden, würde er da wohl von
der Inquisition in dieser Weise verurtheilt worden sein?
Wir verstehen die Logik dieser Herren ~'^ut, wenn sie diese
römische Yerurtheilung als einen stichhaltigen Beweis gegen
Cagliostro zu verwerthen suchen. Dann müssten ja wohl
auch alle Zauberer- und Hexen-Verbrennungen Borns gerechte
Urtheile vollstreckt haben und der Teufelswahn und
böse Geisterglaube hinter ebenso wundersamen wie unerklärlichen
psychischen Phänomenen eine unanfechtbare
Wahrheit sein und bleiben.
Wir haben es einfach nicht mit Teufelei und Schwindel,
sondern mit wahren psychischen Naturwirkungen zu thun.
Cagliostro und alle Magnetiseure und Medien seines Schlages
sind und werden aber auch dadurch noch keine Betrüger
und Schwindler, wenn sie an ihre eigenen Wirkungen
fest glauben und die durch sie ertheilten Offenbarungen
oder Geisterorakel für baare Münze nehmen, wie es
ja auch ihre gebildeten wie ungebildeten Zeitgenossen thun,
welche frappante angebliche Geisteraufschlüsse erhalten und
obendrein sinnlich greifbare Gestaltenerscheinungen wahrnehmen
. Es ist eben Sache der kritischen Naturwissenschaft
und Metaphysik, hinter dieses Geheimniss zi> kommen,
und nicht Menschen noch heut zu Tage im gerühmten
Jahrhundert der Aufklärung als Schwindler und Gauner zum
Zuchthaus oder Irrenhaus zu verdammen, wie man einst
Hexen und Zauberer als vom Teufel und bösen Geistern
Besessene der Inquisition und dem Scheiterhaufen überlieferte.
Leipzig, im März 1883. Gr. C. Wittig.
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