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Wittig: Philosophie und Naturwissenschaft in ihrer Beziehung etc. 281
aber eine unverzeihliche Einseitigkeit, diese kritischen Untersuchungen
nur auf die menschliche Seele einschränken und
nicht mit auf die Thierseele ausdehnen zu wollen; während
früher es freilich für eine poetische Schwärmerei galt, von
einem derartigen Problem im Ernst zu reden, hat man
endlich, namentlich auf Grund der Darwinschen Forschungen
eingesehen, welche trefflichen Analogieen zu unseren
psychischen Erlebnissen sich hier bieten .... Schon jetzt
lassen sich auf Grund eingehender Beobachtungen über
mannigfache Erscheinungen des thierischen Lebens allgemeine
Gesetze aufstellen, die leidlich gesichert sind."
„Aber nicht nur der einzelne Mensch und das einzelne
Thier geben der Psychologie in ihrem experimentellen Verfahren
die werthvollsten Aufschlüsse, sondern der Blick erweitert
sich vom Individuum auf die Gesammtheit, die sich
von denselben Gesetzen gelenkt zeigt, welche das Leben
des Einzelnen beherrschen. Dieser Gedanke einer allgemeinen
Psychologie, um es zunächst so zu benennen,
war zuerst von Herbart gefasst; aber er litt an der einseitigen
Ueberschätzung, welche in seinem System dem einzelnen
Realen überhaupt zu Theil wird. So suchte er aus den
Hemmungen und Störungen der Individuen allein die
Volk evrge schichte zu construiren und vermeinte, dass
das Gewebe des gesellschaftlichen Daseins aus denselben
Eäden bestände, welche das Leben der Einzelnen ausmachten
, ja dass überhaupt der ganze Mechanismus der socialen
Association lediglich ein "Werk der Individuen wäre. Daher
müssten eben wie für die individuelle, so auch für diese
allgemeine Psychologie dieselben Gesetze gelten. Diese
Einseitigkeiten sind dann späterhin von Lazarus und Steinthal
mehr ausgeglichen und zu der Idee einer Völkerpsychologie
erweitert worden". . . . „Sie hat den ge-
setzmässigen Zusammenhang in den Thatsachen des Völkerlebens
in Religion, Sprache, Kunst, Recht, Sitte u. s. w.
durch eingehende Vergleichung klarzulegen, eine umfassende
Culturgeschichte im idealen Stil (im Unterschied von der
Historiographie) aus den Gesetzen der psychischen
Processe zu entwickeln, die Völker als Organismen zu betrachten
und so die Erforschung der geistigen Natur des
Menschengeschlechts als Grundlage zu Geschichte oder dem
eigentlich geistigen Leben der Völker zu entwickeln". . . .
Auch die Forschungen von Lazarus Geiger in der vergleichenden
Sprachwissenschaft „warfen ein
ganz neues Licht in die dunklen Striche, welche bislang
die vorhistorische Zeit umhüllt hatten. Er suchte in der Ent-
wickelungsgeschichte der Worte und Begriffe die Entwicke-
Psychische Studien. Juni 1883. 19
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