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288 Psychische Studien. X. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1883.)
für verrückt, während ich doch nur nervös bin. Was sagen
Sie dazu?" Damit streckte er dem Capitän seine frauenhaft
zarte und kleine Hand entgegen. „Welche Krankheit
kommt dem Alkohol gleich ?" erwiderte dieser mit Nachdruck
, die dargebotene Hand ergreifend und herzlieh
schüttelnd. „Sie haben das selbst in der 'Black Cat* (die
schwarze Katze) niedergeschrieben, mein Herr Poet/' —
„Ich nehme es auch jetzt nicht zurück. Aber welches
andere Mittel giebt es, um den literarischen Zänkereien,
den quälenden Zweifeln, den herzzerreissenden Schmerzen,
überhaupt der ganzen Misere dieses Daseins zu vantrinnen?
Gegenwärtig wandelt mir eine merkwürdige
Verirrung des Gesichtssinnes die ganze
♦ äussereWeltzuweilenin einßlendwerk um,
so dass ich mich oft selbst frage: „Ist das,
waswirimsogenannten normalenZustande
sehen, Wirklichkeit oder Schein? Ich bin
mir noch nicht klar darüber geworden. Allein
seit beinahe einem Jahre schaue ich oft
Wunderbares, Grauenvolles. . , ."
In diesem Moment ging auf der Strasse, dicht an dem
Fenster, wo wir sassen, eine kranke junge Frau, auf den
Arm einer Wärterin gestützt, vorüber. Ihr Teint war
citronengelb, und zahlreiche Falten liefen über das Gesicht
nach dem Halse herab. „Sehen Sie, Capitän," stiess Edgar
Poe hervor, sich halb aufrichtend, mit starr gewordenen
Augen der langsam sich Entfernenden folgend. „Die Arme
weiss nicht, warum ihr Fleisch welk, ihre Haut faltig geworden
ist und zu weit für ihren Körper zu sein scheint.
Ich aber kenne die Ursache. Hören Sie mir zu!" Und
nun erzählte Edgar Poe, was folgt. Er sprach mit einem
Ernst, einer Ueberzeugung, dass seinen Zuhörer, den wackeren
Schiffscapitän, bei der Geschichte ein Grauen anwandelte. —
Die Geschichte ist die eines Faschingsballes in
Baltimore. Poe will im Vestibüle gesehen haben, dass, als
die Gäste ihre Oberkleider und Hüllen an die dafür bestimmten
Haken aufhängten, Jeder und Jede sich mit dem
abgelegten Mantel zugleich der menschlichen Fülle aus
Fleisch und Blut entkleidete, so dass nur das nackte Skelett
übrig blieb. Wie die Puppen in einem Marionettentheater
baumelten alle diese Körper ohne Knochengerüst an den
Kleiderhaltern, während die Skelette zum Ballsaal schritten,
um zu tanzen. Wer diese phantastische Schilderung des
Balles näher kennen lernen will, den verweisen wir auf
No. 8 der „Allgemeinen Moden-Zeitung" v. 19. Februar
er. Am Ende des Balles war der oben erwähnten vorüber-
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