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524 Psychische Studien, X. Jahrg. 11. Heft. (November 1888.)
,schöne, verlockende Weib, das uns das Blut aussaugt, die
,Angst vor der Vernichtung, und es liegt etwas allgemein
^Menschliches in diesen „Erscheinungen", denn wem kämen
,nicht zu Zeiten quälende Zweifel an sich und seiner Bestimmung
?'*)
„Für den mystischen Zug in Ivrgeniew sind auch
zwei kleinere Erzählungen bezeichnend, die der Dichter in
der jüngsten Zeit veröffentlicht hat, und die seine originelle
Begabung in ihrer ganzen Frische zeigen. Es sind dies
der „Triumphgesang der Liebe" (1882) und
»Clara Militsch" (1883), zwei Novellen, in denen dem
Traume und dem träumenden Selbstbewusst-
sein insofern eine Bedeutung zuerkannt wird, als sich die
Handlung hierdurch nicht nur innerlich vertieft, sondern
auch äusserlich vorwärts bewegt. Beide sind auf jenes
Grenzgebiet zwischen Wirklichkeit und Phantasiewelt verpflanzt
, welches £. Th. A. Hoffmann mit den wunderlichen
Kindern seiner Muse bevölkert hat; aber wenn der deutsche
Romantiker der Realität nui geringe Zugeständnisse macht
und ihre Gesetze muthwillig missachtet, so hat Turgenierv
immer festen Boden unter seinen Füssen. Nur die Stimmung
des Ganzen ist so eigenthümlich bedingt durch die Eingebungen
des unbewussten Willens, die Atmosphäre
ist so erfüllt und gespannt von Kundgebungen eines
eigenartigen Seelenlebens, dass die Personen und Dinge trotz
der Sicherheit der Zeichnung die festen Formen verlieren
und von einem Hauch des Geisterhaften umflossen
zu sein scheinen. Im „Triumphgesang der Liebe" führt das
Schlafwandeln zweier Personen, deren nicht eingestandene
Liebe in diesem Zustande der Seele nach Erfüllung ringt**),
die Katastrophe herbei, und alles drängt sich in der Novelle
zusammen, um den Eindruck des Geisterhaften aufs
Höchste zu steigern. Die in das 16. Jahrhundert zurück-
datirte Geschichte ist trotz ihres geringen Umfanges nach
unserer Meinung ein Kunstwerk ersten Ranges; jeden Augenblick
glaubt man, dass die Schranken der Wirklichkeit fallen
und an ihre Stelle die Gesetze einer höhern Welt treten
müssen, und doch beruht alles auf sicherer psychologischer
*) Wir werden, wenn nicht früher, so doch im XI Jahrgange der
„Psych. Studien" 1884 bemüht sein, den Vampyrismus von einer
etwas realeren Seite seines Wesens zu beleuchten. Man vergleiche inzwischen
den Artikel: „Der Vampyrglaube kein ganz leerer Wahn"
im Juni-Heft 1883, S. 290. — Gr. €. W.
**) Ein ähnliches Sujet scheint uns die neueste Novelle von Hans
Wachenhusen: „Magnetische Inclination" im Juli- und August-Hefte
1888 von „Unsere Zeit" (Leipzig, Brockhaus,) zu verfolgen,
Gr. C. W.
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