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526 Psychische Studien. X. Jahrg. 11. Heft. (November 1883.)
schimmern. Andere Schriften des Dichters werden mehr
bewundert werden, diese „Senilia" aber kann man nicht
kritisiren, sondern nur lieben. Alter und eine schwere
Nerven- und Herzkrankheit, die den Dichter vor einem
Jahre überfiel, haben ihn wohl gebeugt, aber hoffentlich
nicht gebrochen." —
In seinem Roman „Väter und Söhne" (1861) und in
„Rauch" (1867) hatte er den Kampf gegen das Uebertreiben
des nationalen Selbstgefühls und den beginnenden Nihilismus
muthig begonnen. „Er sah die Zeitkrankheit in ihrer
Entstehung und wusste als erfahrener Arzt im Voraus, zu
welchen Erscheinungen dieselbe führen würde. Ueber kurz
oder lang musste das wunderliche Treiben gefährlich werden,
musste der Arm das auszuführen versuchen, was der Kopf
ersonnen. Diese Wandlung des theoretischen Nihilismus
in den praktischen hat Turg&niew in „Neuland" (1876) geschildert
, einem Buche, mit welchem der Dichter als echter
Prophet seiner Zeit vorausgeeilt ist, sodass die spätem
Ereignisse alles bestätigt haben, was er vorausgeschaut hatte
und was ihm anfänglich als tendenziöse Uebertreibung ausgelegt
wurde. Einer der vorzüglichsten Kenner dieser Dinge,
der Verfasser des Buches „Aus der petersbur^er Gesellschaft
," sagt nicht zu viel, wenn er die Bedeutung dieses
Romans für die europäische Kenntniss russischer Zustände
und für die neuere russische Sittengeschichte geradezu un-
ermesslich nennt. Die Geschichte der petersburger Attentate
von Wera Sassulitseh, die im Jahre 1878 den Polizeimeister
Trepow schwer verwundete, bis zu dem grauenhaften Verbrechen
im Jahre 1881, dem Alexander IL zum Opfer fiel,
entwickelte sich fast in allen Einzelheiten genau so, wie es
Turgeniew im voraus geschildert hatte. In „Neuland" sind
wir dem Revolutionskrater schon ganz nahe gerückt u. s. w."
— „Auf das Geschrei der Uebertreibung, Schwarzseherei
und noch schlimmerer Dinge, welches ihm von allen Seiten
darauf entgegentönte, hatte Turgeniew keine andere Antwort
als die Versicherung, dass er von nun an keine Zeile weiter
schreiben werde . . . Mit den socialpolitischen Problemen
hat er sich seitdem nicht wieder befasst, obwohl die glänzende
Aufnahme, die er im Jahre 1880 in Petersburg und Moskau
fand, ihm als eine Genugthuung für ein schweres Unrecht
erscheinen musste, wie er sie ehrenvoller nicht verlangen
konnte. Man erkannte ihn, den eine Zeit lang alle Parteien
mit ihrem Hass überschüttet hatten, öffentlich als einen
Apostel der Wahrheit an und erblickte in seinem muthigen
Vorgehen gegen die Zeitübel eine ganz andere Bewährung
des Patriotismus und eine reinere Liebe zur Freiheit, als
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