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34 Psychische Studien. XI. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1884,)
„Kälte; ich suchte in seine Augen zu blicken, aber er
„wendete sie von mir. Ich flüsterte ihm alte Liebesworte
„in's Ohr, und ich sah, dass sein Herz sie gehört, er geflachte
mein, aber er wendete sich seufzend von mir und
„schlang die Arme um die Gefährtin . . . Sie flüsterte zärtlich
: 'Ach, hätte ich nur Deine erste Liebe!' Ernst und
„traurig blickte er sie an und flüsterte zurück: 'Du hast
„meine beste Liebe!5 . . .
„Und ich blieb noch, da ich wusste, dass es zum letzten
„Male sei, dass jetzt unsere grosse Trennung gekommen.
„Denn das, was er Liebe genannt, Latte nur dem Vergänglichen
gegolten und war mit ihm vergangen, und sonst gab
„es nichts, was uns hätte verbinden können. Ich wäre es
„zufrieden gewesen, hätte ioh gewusst, dass sie ihm eine
„volle Liebe zu geben habe; aber ich wusste, sie habe dies
„nicht . . . Endlich floh ich in die Nacht hinaus, denn ich
„sali, dass er an Nichts dachte, als an das schöne Weib an
„seiner Seite . . .
„Dann kehrte ich nochmals zurück, das K i n d zu sehen,
„das damals in der Wiege geschlafen ... Im Dunkel stahl
„ich mich zu ihm, sah sein Gesichtchen u. s. w. und hätte
„gern meine Seele hingegeben, um einen einzigen Augenblick
„nur Fleisch und Blut zu sein und das kleine Wesen in
„meine Arme drücken zu können. Ich beugte mich über
„das Kind und küsste es, aber es schauderte im Schlafe
„vor mir zurück, und dann erwachte es schreckhaft und rief:
,/Mutter! Mutter!1 Aus dem Nebenzimmer kam die schöne
„Frau. Ich stand neben dem Kinde und berührte es leicht,
„aber wieder scheute es vor mir zurück, und die Arme nach
„der schönen Frau ausstreckend, rief es wieder: 'Mutter,
„Mutter V Die Fremde nahm es in ihre Arme, und das Kind
„blickte zu ihr auf und lächelte zufrieden--ich eilte
„wieder in die Nacht hinaus»" —
Damit schliesst diese angebliche V i s i o n, deren eigentliche
Quelle uns leider nicht genannt ist. Sie zeigt aufs
deutlichste, welchen Seelenleiden und bitteren Erfahrungen
ein soeben hinübeigeschiedener Geist entgegengehen müsste,
wenn er wirklich ein Geist v o n der dort geschilderten
Beschaffenheit wäre. Wir wagen letzteres stark zu
bezweifeln.
Ein Geist, der in der Wirklichkeit und im Spiegel
alle übrigen Wesen und Dinge, aber sich selbst nicht sieht,
ist doch ein recht sonderbares modernes Fabelwesen. Das
allein erscheint uns richtig, dass ein Geist weder dem
irdischen Auge, noch dem irdischen Ohre, noch den übrigen
Sinnen unseres Körperlebens irgend welche sinnliche Er-
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