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194 Psychische Studien. XL Jahrg. 4. Heft. (April 1884.)
und Teplitz hinabgepilgert in das paradiesische Böhmerland
. Die Kirche in Graupen wurde mir als eine sehens-
werthe Wallfahrtskirche mit vielen Denkwürdigkeiten gerühmt
. Ich besuchte sie. Da war die sogenannte heilige
Stiege, auf der Christus zu Pilatus hinaufgeführt worden,
um droben nach der Geisselung als Ecce Homo mit der
Dornenkrone zu stehen* Das ganze bittere Leiden Christi
war in überlebensgrossen Figuren fast drastisch anzuschauen.
Und in einem Winkel am linken Seitenaltare erblickte ich
eine Art Höhle, auf die ich in meiner Neugier rasch zuschritt
. Ich vermuthete ein sogenanntes heiliges Grab.
Aber was erblickten meine Augen, als ich in die Oeffnung
hineinsah? Zuerst eine dicke Finsterniss, welche das Auge
anfangs nichts erkennen Hess, als im fernen Hintergrunde
eine feurige Gluth. Nach und nach gewöhnte sich der
Blick an das Dunkel und sah allmählich aus der Tiefe
bleiche lebensgrosse Gestalten schreckhaft in allen Wendungen
und Windungen der Verzweiflung emportauchen,
mit gerungenen Händen, verzerrten Angesichtern und thränen-
den Augen. „Es sind die armen Seelen im Fegefeuer!"
erklärte mir ruhig der begleitende Küster. Das Höllenfeuer
im Hintergrunde war durch gluthrothe Scheiben aufs Freie
hinaus künstlich hergestellt. Augenblicklich dachte ich der
Tage meiner Kindheit und an meine arme Mutter, welche
durch ähnliche Bilder in ihrem „Goldenen Himmelsschlüssel,"
oder: „Sehr kräftiges, nützliches und tröstliches Gebett-Buch,
zur Erlösung der lieben Seelen des Fegefeuers. Darinn
zuforderst in dreyen Geschichten die Grausamkeit des
Fegefeuers, sammt einer leichten Weis, die arme Seelen
ohnfehlbarlich zu erlösen, erklärt wird. Darnach aber in
sechzehen Theilen allerhand kräftige Morgens-Abends-Mess-
Vesper-Beicht und Communion-Gebetter etc. Zum sonderlichen
Gebrauch des andächtigen Weibergeschlechts."
Durch Pater Martin von Cochem, Capuc. Ord. (Gross-Glogau,
Gedruckt nach dem Sultzbacher Exemplar. 17t>5) ~ > der
die Aengsten der Sterbenden, vor denen der Teufel am
Fussende des Bettes mit aufgeschlagenem Sündenverzeichniss
hohnlachend steht, die Qualen der armen Seelen im Fegefeuer
und die Verzweiflung der in der Hölle Gemarterten
auf das drastischeste mit Worten geschildert hat, eine Zeitlang
dem Tiefsinn verfiel, bis ein aufgeklärter Beichtiger ihr
begreiflich machte, dass das nur Symbole oder Bilder sein
sollen für die Gewissensbisse Derer, welche im Leben nicht
recht handeln. Und meine Mutter hat hierauf die ganze
Vorrede aus ihrem Gebetbuch resolut herausgerissen und
ins Feuer geworfen.
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