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Elster: Mediumistische Gemütszustände.
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die einen Sünder zur Bekehrung führen könnten, — sonst
wehe ihm oder ihr, wenn sie dem schweren Gebote nicht
gehorchen! — Sie macht sich tief erschüttert auf den
Heimweg.
„Sie lief wie verfolgt. Denn nun hatte sie ja ein
„Zeichen bekommen; und sie unterhandelte mit sich selbst,
„ob nicht das Wort des Priesters anders gelautet haben
„könne, als wie sie es gehört. Als sie auf die Höhe kam,
„fiel das bleiche Nachtlicht des Mondes über die todten-
„stille Fläche. — 'In solchen Nächten gehen die Verstorbenen
um', dachte sie, indem sie weiter schritt. 'Doch wer
„ein gutes Gewissen hat, sieht nichts von bösem Spuk',
„tröstete sie sich. Dann aber ward ihr wirklich bange;
„denn wenn sich nun doch etwas begeben sollte, so wäre
„dies abermals ein Zeichen. Sie war gerade auf der ödesten
„Stelle im ganzen Umkreis; der einzige Laut war das
„Knirschen des Schnees unter ihren Füssen, und das Ein-
„zige, was sich von der Einförmigkeit der weissen Fläche
„abhob, war ihr Schatten, der mit ihr über den Berg eilte.
„— Horch! — Erscholl nicht ein Laut hinter ihr? Nein!
„es mussten ihre eignen Gedanken gewesen sein. Aber
„konnten sie so laut rufen? Konnten sie wie Pferdege-
„stampf, wie sausende Peitschenschläge schallen? — Näher
„und näher kam es heran; sie hörte nicht nur, sie sah
„leibhaft vor sich einen Zug Pferde, die, halb verborgen
„vom Schneedunst, blau gefärbt vom Mondlicht, wild dahin-
„sausten, ohne dass sie einen einzigen Hufschlag vernahm.
„Sie sprengten vorüber, und während sie vorbeijagten, sah
„Salborg den ermordeten Pferdehändler. Er ritt rückwärts
„auf einem Rappen, sein Haar und seine Kleider hingen voll
„klappernder Eiszapfen; er sah sie mit gebrochenen Augen
„an und deutete mit seiner Reitgerte nach dem Wasser.
„Da warf sie sich nieder in den Schnee bei dem entsetz-
„lichen Anblick und rief: 'Ich will! ich will!'" —
Und sie geht heim und versucht vergebens, Sohn und
Gatten von ihrem weiteren bösen Vorhaben abzubringen;
dann begiebt sie sich zum Pfarrer, um sich bei ihm Raths
zu erholen, dessen Rath sie schliesslich zur öffentlichen Anklägerin
ihres Sohnes macht. — Hier walten rein psychische
Kräfte und Mächte. Ihre Vision, das sog. zweite
Gesicht, ist die sichtliche Ausgeburt ihres verstörten Ge-
müthes und Gewissens, welches ihre Sinnesfunctionen beherrscht
und sie das vorher seelisch Geahnte und Gewusste
nochmals im sinnlichen Bilde mit plastischer Wirklichkeit
schauen lässt. Der kategorische Imperativ der Pflicht und
des Gewissens treibt sie sodann zum letzten schweren
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