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224 Psychische Studien. XI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1884.)
irdische Wesen auch vollkommener die phänomenalen
Gesetze kennen und verstehen lernen werden. Die andere
Ansicht fusst auf dem Princip der allmähligen Entwickelung,
schlägt sich daher scheinbar mit ihren eignen Waffen,
falls sie behauptet, dass die Entwicklung mit dem dermaligen
Menschen an ihr Ende gekommen ist; denn eine
schlechthinnige Entwicklung hat eben kein Ende. Aber
diese Weltauffassung setzt der weiteren Evolution auch
nur in tellurisch-morphologischer Hinsicht im Menschen ein
Ziel; es existirt nach ihr faktisch eine Weiterentwicklung,
welche aber auf anderm Gebiete liegt. Nach dem von
Ernst Kapp in seiner „Philosophie der Technik" durchgeführten
Satze, „dass die ganze Menschengeschichte, genau
geprüft, sich zuletzt in die Geschichte der Erfindung
besserer Werkzeuge auflöst", findet in der That auch nach
causaler Weltanschauung eine Fortbildung der Menschheit
statt. Denn vom „Zeitalter der undurchbohrten Steinge-
räthe" bis zu dem der Telephone, Mikrophone und Phonographen
ist, wie jedes Blatt der Geschichte nachweisen
kann, ein Parallelismus der Geräthe und der Cultur vorhanden
, d. h. wir können die jeweiligen technischen und
wissenschaftlichen, natürlich autochthon verfertigten, Geräthe
und Instrumente als Maaszstab für die Oulturhöhe
eines Volkes ansehen. Wer wird nun einen Stillstand in
der Erfindung von prakterischeren, nützlicheren, feineren
und schärferen Geräthen behaupten wollen?*) Erhalten wir
nicht täglich Berichte von neuen Erfindungen und Entdeckungen
? Und hiermit wird auch der Fortschritt in der
Kultur und die genauere Kenntnis der (phänomenalen) Naturgesetze
nach wie vor Hand in Hand gehen.
Aber noch ein zweiter Umstand ist in Betracht zu ziehen.
Gleichzeitig mit der Verbesserung unserer Instrumente wird
nämlich eine Modification und eine Verschärfung unserer
eigenen Sinne ebenfalls auf Grund der Evolutionstheorie erfolgen
. Diese Annahme lässt sich durch ein geschichtliches
Beispiel illustriren. Aus linguistischen Thatsachen, nämlich
aus der ÜLrmuth der homerischen Sprache, sowie der meisten
heutigen Naturvölker an Bezeichnungen für die verschiedenen
Farben, hat man geschlossen, dass sich das Fnrbenwahr-
nehmungsvermögen im Laufe der Zeit von Geschlecht zu
Geschlecht allmählich modificirt hat und zwar so, dass wir
*) Man studire: „»Das Problem der Anthropologie. Die menschliche
Kunst und ihre Bedingungen." Von Ludwig Noire in Mainz,
in Nord und Süd" (Breslau, Scholtländer,) Dezemberheft 1883. — Vgl.
die Note S. 76 des Februarheftes 1882 der „Psych. Studien."
Die Redactioa.
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