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238 Psychische Studien. XI. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1884.)
„Die leitenden Gedanken beider Systeme," meint v. B.9
„sind genau dieselben und treffen oft sogar im Ausdruck
„zusammen, wo von der Liebe zu Gott, der Vereinigung
„mit Gott, dem ewigen Leben in Gott, von der Nichtigkeit
„der Werke und Ceremonien, von der Gnade und geistigen
„Erleuchtung und vom Logos die Rede ist. Beide Systeme
„offenbaren sich als Religionen des Herzens im Gegensatz
„zu allem Pormalismus und Ritualismus. Beide erheben das
„innere Licht über die Satzung und Stimme der Kirche.
„Beide zeigen ein glühendes Verlangen nach visionären
„Verzückungen und übernatürlichenErhebungen,
„und haben aus ihrem Schoosse ganz gleichartige Ueber«
„schwänglichkeiten geboren. Wenn der Ssufismus seine
„Mewlawis und Rafais und Beschara-Fakirs hat,
„seine klagenden, heulenden, (tanzenden und wund erwirkenden)
„Derwische, so kann der europäische Mysticismus
„dafür seine nabelbeschauenden Mönche (Omphalopsychi),
„Jansenistischen Convulsionärs *), seine Wiedertäufer von
„Münster und seine Shakers aufweisen. Ich weiss nicht,
„ob die Springer von Echternach ebenfalls zu den Mystikern
„gehören. Endlich, um die Parallele zu vervollständigen,
„neigen beide Systeme zum Pantheismus und bedienen sich
„gleicher sinnlicher Figuren, um ihre Visionen und Verzückungen
auszudrücken. Der Pantheismus des „Gulschen-
„i-Ras4* entspricht ganz dem des „Doctor Ekstaticus"
„Eckari, und viele seiner sinnlichen Bilder finden sich wieder
„in der erotischen Sprache des heil. Bernhard (von Clairveaux
) über das hohe Lied, den wundervollen Ergüssen
„des heil. Thomas (vonAquino) und den mystischen Hymnen
„des Alphonso Liguori. — Der Ssüfi fühlt sein Dasein auf
„Erden als ein kurzes, schnell vergängliches und seine
„Freiheit als eine eingebildete, weil alles Endliche vom
„Unendlichen abhängt. [Hierin liegt auch die Wurzel der Prä-
„destinationslehre oder des sog. türkischen Fatalismus. Ref.J
„Dieser höheren unsichtbaren Macht gegenüber, die er als
„das einzig Bleibende im Wechsel der Erscheinungen er-
„kennt, kommt ihm alles sinnlich Wahrnehmbare als nichtig
„vor. Darum kehrt er den Blick nach Innen, und je
„länger er Einkehr in sich selbst hält, desto klarer wird
„es ihm, dass dies der einzige Weg ist, um zu Gott zu
„gelangen, der sich ihm mehr durch das Herz als durch
„den Verstand offenbart. Der Verstand erschöpft sich
„vergebens in der Erforschung der Gegensätze, deren Ver-
*) Ueber diese findet man nähere Nachweise in Robert Dale
Owen9s: „Das streitige Land" (Leipzig, 0. Mutze, 1876.)
1. Theil S. 298 ff.
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