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Löst sich bei Visionen noch Lebender der Geist etc. 295
„was die Frau anhatte. Als meine Nichte die Jacke beschrieb
, sagte ich: 'eine solche Jacke hat die Therese in
„Stadthagen einmal von einer alten Dame geschenkt bekommen
, und sie trägt sie des Nachts/" Die Kinder der
altern Schwester kannten diese ihre Tante nicht mehr, weil
diese seit ihrem vierten und fünften Jahre davon gezogen
war. Nach dem Tode der fernen Schwester sah die Erzählerin
eines Tages ein Album der älteren Schwester durch,
wobei ihr die 15jährige Nichte über die Schulter sah. „Als
„ich nun das Bild der Gestorbenen" („das*) die Nichte nicht
kannte — was uns aber doch etwas unwahrscheinlich klingt!
Diese Nichte war ja die Tochter der Albumbesitzerin! —
Ref.) „aufschlug, fasste mich meine Nichte beim Arm und
„sagte: 'Du, Tante, wer ist denn das ? Das war ja die Frau,
„die an der Mutter ihrem Bett stand.' — Sollte es also doch
„möglich sein, dass der Geist vom Körper sich trennt und
„in der kurzen Zeit solche Wanderungen unternimmt und
„andern Augen als Körper sichtbar wird, — wer mag das
„erklären!" —
Wir geben nicht vor, dergleichen Erscheinungen definitiv
erklären zu können, meinen aber, dass zu ihnen
doch wohl noch keine Trennung des Geistes vom Körper
nöthig ist. Hier kannten die beiden noch lebenden Schwestern
ihre kranke und dann gestorbene Schwester gewiss genau,
trugen ihr Erinnerungsbild in ihrem Gemüthe, beschäftigten
sich mit ihr und übertrugen das plötzlich in der fusskranken
älteren Schwester visionär erweckte Bild durch sogenannte
sympathische Ansteckung auf die Tochter über. Hellsehen
eines vermeintlichen Geistes ist noch nicht der wirkliche
Geist selbst. Hier war die Schwester notorisch noch nicht
gestorben. Wäre die Theorie der Trennung des Geistes
vom Körper richtig, dann müssten auch alle lebhaften Traumbilder
von noch lebenden Personen eine solche Trennung
voraussetzen lassen. Wenn ich einen entfernten Gegenstand
entweder wirklich oder visionär sehe, brauche ich doch deshalb
noch nicht körperlich aus mir heraus zu ihm hin und er
nicht zu mir her zu gehen, da wir ja Medien der Vermittelung
unserer Sinnes Wahrnehmungen haben und die „Gedankenübertragung
" sogar eine festgestellte Thatsache ist. Wir
wiederholen jedoch, dass durch diese einfachere Erklärung
dieses und aller ähnlichen Fälle deshalb die Existenz trans-
scendenter (wirklich jenseitiger) Geister nicht geleugnet wird.
*) Vielleicht sollte es nur heissen: „welche (Gestorbene) die Nichte
persönlich nicht kannte;" denn ein solches Bild einer so nahen Verwandten
entzieht sich doch wohl nicht leicht der, Kenntnis» aller
Mitglieder einer Familie. — W.
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