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426 Psychische Studien. XL Jahrg. 9. Heft (September 1884.)
wenig gekannten, aber wirklich existirenden geisti-
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gen Welt.
Als Christus am Kreuze ausgerungen hatte, als dieser
hohe „Gottgesandte" vor seinem Verscheiden sein „Es ist
vollbracht!" ausrief; als sein edler Geist sich dem am
Kreuze schrecklich gemarterten Körper entrang: da zer-
riss der Vorhang im Tempel, welcher den „Eingang"
zum „ Allerheiligst enfct für die blinde Menschheit abschloss,
symbolisch andeutend, dass fortan ein „Hohespriesterthum"
den Menschen nicht von seinem Gott trennen soll, — wie
selbst noch heute geschieht, — und dass eia Jeder sich
nach Maassgabe seiner Erkenntnis — „dem allerheilig-
sten Gott" — nahen könne.
Aehnliche Vorfälle bei wichtigen Ereignissen und beim
Verscheiden von Menschen werden und sind sehr viele berichtet
; keines aber wohl von tieferer symbolischer Bedeutung
. Bei Christus wurde es von welthistorischer Wendung
und Bedeutung! Er war kein gewöhnlicher Mensch.
Im Evangelium Johannes, Kap. 20, wird im Wesentlichen
Folgendes erzählt: — Als am Ostermorgen Maria Magdalena
zum Grabe kam, war der Stein hinweg. Sie lief zu den
ihr folgenden Jüngern zurück, mit der Meldung des Gesehenen
; sie liefen zu Zweien eilig zum Grabe und fanden
die Tücher gelegt, auch Simon Petrus fand, als er folgte,
die Leinen gelegt, das Schweisstuch aber, welches Jesus um
hatte, war besonders gewickelt. — Maria aber weinte. —
Als sie nun weinend in das Grab bückte, sieht sie zwei
Engel in weissen Kleidern sitzen, den einen zu Häupten,
den andern zu Füssen. Dieselbigen sprechen zu ihr: „Weib,
was weinest Du?" Sie antwortet: „Sie haben meinen Herrn
weggenommen", und als sie das sagte, wandte sie sich und
sieht Jesum stehen und weiss nicht, dass es Jesus ist. Spricht
Jesus zu ihr: „Weib, was weinest du; wen suchest du?"
Sie meint, es sei der Gärtner; da spricht Jesus zu ihr:
„Maria!" — da wandte sie sich und erkannte ihn; er aber
spricht: „Rühre mich nicht an!" — u. s. w. — Am Abend,
als die Jünger versammelt und die Thüren verschlossen
waren, trat Jesus mitten unter sie und spricht zu ihnen: —
„Friede sei mit Euch!" Acht Tage später kommt Jesus
wieder, da die Thüren verschlossen waren, woselbst auch
der zweifelnde Thomas ihn berühren durfte. — Darauf bricht
der offenbar erschrockene Thomas in die psvchologisch bedeutsamen
Worte aus: „Mein Herr und mein Gott!" —
Jesus aber spricht: — „Dieweil du mich gesehen hast,
Thomas, so glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch
glauben!"
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