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Reimers: Erörterungen zu meinen früheren Erfahrungen. 471
listische Anschauung mit aller Vorsicht und Schonung vorbereitet
werden. Die Erkenntniss, dass jeder Mensch seine
eigne Erlösung thatsächlich erkämpfen muss, wird am
spätesten Eingang finden, da die Blutsühne für die Majorität
einen willkommneren und bequemeren Ausweg bietet. Die
erhabenen Gebäude und Kunstwerke des christlichen Cultus
behalten ihren Werth, und die Kirchen werden sich noch
füllen von gläubigen und betenden Menschen, selbst wenn
das theologische Kanzelgeschnatter reiner Gottesverehrung
Platz macht und aufhört darauf zu pochen: „so steht's geschrieben
!" anstatt die Natur sprechen zu lassen.
Göttliche Offenbarung ist keine geschichtliche Kunde,
sondern immer da, wo die Augen vom Staub der Materie
gereinigt sind. Wenn im Fortschritt der Wissenschaft ein
Zeitraum von sechs Tausend Jahren als Alter einer Ansicht
nicht in Betracht kommt, so dürfte eine kleine Correktur
von achtzehnjährigem Wahn nicht so viel Aufsehen machen.
Ansichten zu vertheidigen, weil sie lange bestanden, oder
zu verwerfen, weil sie so lange zurückgehalten wurden, kann
nur flachen Köpfen genügen. Die „Psychischen Studien",
sowohl als Ziel moderner Forschungen wie als durch ihren
Titel, gehören zu dem Ariadnefaden, uns aus dem Labyrinth
verjährter Pergamentslehren in die Natur zurückzuführen.
Ich fühle mich sehr angeregt, gegen die verbreitete
Meinung zu protestiren, als gingen die Spiritualisten nur
auf Sensationsreklame und wunderbare gruseliche Geistergeschichten
aus 1 Aussei der Harmonisirung aller Glaubensformen
greift der Spiritualismus in's praktische Tagesleben
ein, und ihre ersten Vorkämpfer zieren die Listen der
Pioniere für humanistische Zwecke. Im Schutz der Thiere,
in Sanitätsgesetzen und in allem auf Freiheit und Wohl
der Menschen Zielenden leiten besonnene Spiritualisten die
Entwicklung, und meine jetzigen mir unerwarteten Erfolge
in meinem eignem Beruf der Musik verdanke ich lediglich
der spirituellen Influenz. Jeder Mensch ist seines eignen
Geistes Medium, um den Begriff sofort aufs praktischste
zu verwerthen. Ein fremder Geist kann eine Organisation
(ein Medium) als Werkzeug benutzen und missbrauchen in
Fällen mangelhafter Selbstkontrole, und der eigne Körper
ist das Medium, um den Willen oder den Plan des con-
trollirenden Geistes zu vollziehen.
(Schluss folgt.)
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