http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1884/0484
476 Psychische Studien. XL Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1884)
Aber wir haben auch ein direktes dichterisches Zeug-
niss für diese Fähigkeit, willentlich zu sterben, aus demselben
Lande Yemen in dem ebenso herrlichen, wie unendlich
zartgefühlten Poem Heinrich Heinas: „Der Asra,"
welches wir seiner Kürze halber vollständig citiren: —
„Täglich ging die wunderschöne Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am ASpringbrimn, wo die weissen Wasser plätschern.
Täglich stand der junge Sklave um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weissen Wasser plätschern; täglich ward er bleich und bleicher.
Eines Abends trat die Fürstin auf ihn zu mit raschen Worten:
Deinen Namen will ich wissen, Deine Heimath, Deine Sippschaft
Und der Sklave sprach: „Ich heisse Mohamet, ich bin aus Yemen,
Und mein Stamm sind jene Asra, welche sterben, wenn sie lieben."—
Dass junge Mädchen und Bräute besonders von Liebesaberglauben
erfüllt sind, dürfte ebenfalls die sinnliche Heftigkeit
solcher geglaubter Hexenwirkungen erklären. Die
arme geprügelte Alte, welche das sterbende Mädchen in
Loheia durch Gebete retten wollte, ist als unschuldiges
Opfer zu bedauern. Hassan Makbuli wurde durch seinen
Aberglauben in jenen starrsüchtigen hypnotischen (oder
statuvolischen) Zustand versetzt, in welchem er die Verwandlung
der vermeinten Hexe in eine Eselin und zurück
in eine Sklavin mit geistigem Auge (wie im Traumzustande)
beobachtete. Die bei ihr gefundenen geheimnissvollen Zettel,
welche man zerriss, beweisen nichts für ihre Hesenschaft.
Aber ihr Glaube als an vielleicht ererbte Familien-Amulete
hing daran, und deren Verlust machte sie so untröstlich, dass
sie darüber im Wahnsinn starb. Was die Leute über sie
aussagten, bewegte sich nur im Kreise des allgemeinen
Aberglaubens.
Am interessantesten dünkt uns die Entscheidung der
Gesetzesgelehrten. Statt vorher sich von der Beschaffenheit
des Innern der den alten Weibern vorgelegten Granatäpfel
zu überzeugen, dieselben zusammen zu fügen und dann erst
zuzusehen, was die Hexenkraft mit den wirklich gesunden
Granatäpfelkernen bewirken würde, fand man von den ä
priori ganz vorgelegten Granatäpfeln erst hinterdrein einige
leer, andere nur mit schwarzen und verdorrten Kernen.
Auf dieselbe Weise hätte man auch wirklich gesunde Kerne
in vorgelegten bloss vermeintlich kernleeren Granatäpfeln
vorfinden wollen können. Tief sinnreich ist, dass nach diesen
Weisen geschrieben steht, wie ein böses Weib ihren Mann
in einen Esel zu verwandeln, oder diesen in ihren Ehemann
unter strengen Bedingungen zurückzuverwandeln vermag.
Dergleichen in einem Volke wurzelnde Gemtithsan-
schauungen sind durchaus nicht als unwirksam zu verachten
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1884/0484