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Siebert: Ueber den Mechanismus in den Erscheinungen etc. 479
kann z. R das Erinnerungsbild einer geliebten Person in
der Sehnsucht nach derselben eine besondere Lebhaftigkeit
erreichen. Ist durch tagelanges Bangen um deren Wohl
das Gehirn bereits abnorm reizbar geworden, so geschieht
es leicht, besonders bei mangelhafter Beleuchtung der Umgebung
, dass uns plötzlich die Person selbst entgegenzutreten
scheint, oder wir erblicken sie in der Situation, die
dem Inhalt der Befürchtung entspricht: hilfeflehend auf
untergehendem Schiff, sterbend oder todt, aus vielen Wunden
blutend u. s. w. — Das Erinnerungsbild hat die Stärke
eines wirklichen Sinneseindruckes erlangt, und da nun keine
Differenz der Intensität mehr zwischen beiden besteht, so
können wir das ßeale vom Schein nicht mehr unterscheiden,
und die Hallucination, Sinnestäuschung, ist vollendet. —
Am leichtesten treten Hallucinationen dann ein, wenn das
Gehirn durch Krankheit, Nachtwachen, religiöse Büssungen
und dergleichen in den Zustand reizbarer Schwäche versetzt
ist, oder wenn durch langdauernde Monotonie der Sinneseindrücke
Funktionsbedürfniss eintritt, wie in der Einzelhaft.
Visionär sind Hallucinanten; der Glaube an Geistererscheinungen
und Ahnungen beruht auf diesen Sinnestäuschungen
."
„Bei der Illusion werden die Sinneseindrücke unrichtig
appercipirt, in falschen Zusammenhang gebracht, wie
dies besonders leicht durch Mangel an Aufmerksamkeit geschieht
. Aber auch rückwirkend aus komplicirten Vorgängen
des Urtheilens und Schliessens kann Störung in der Apper-
ception entstehen. So rufen Furcht, Hoffnung, Aberglaube,
verbunden mit Schwächung der Intensität der Sinneseindrücke
, Dämmerung, unbestimmten Geräuschen leicht Illusion
hervor. Es ist bekannt, wie leicht der in der Walcldämmerung
Verirrte die Geräusche als Peitschenknall, Hundegebell hört,
ein Baum mit phantastischen Aesten als Schreckgestalt, ein
hängendes weisses Gewand in der Dämmerung für ein Gespenst
angesehen wird. Die hübschesten Märchenbilder, der
Elfenreigen, die Lokalsagen wurzeln meist in Illusionen."
„Wie viel Automatisches, Mechanisches in allen diesen
Vorgängen selbst des höheren Seelenlebens vorhanden ist,
kann leicht erkannt werden, wenn krankhafte Trübungen
und abnorme Zustände des Bewusstseins eintreten. Wir
wollen an dieser Stelle nur an die merkwürdig complicirten
und instinetiv sicheren Aeusserungsweisen bei krankhaften
Schlafzuständen, dem Somnambulismus, den Coor-
dinationskrämpfen mancher Hirnleidenden, erinnern. —
Zwangshandlungen und Zwangsvorstellungen bilden den
wichtigsten Inhalt der Seelenstörungen, und diese,
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