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482 Psychische Studien. XI. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1884.)
dass die Krankheit des Künstlers in einem plötzlichen Anfalle
ausbrechen könne. Das Publikum scheute sich, zu applau-
diren, aus Angst, den Unglücklichen in gefährlicher Weise
aufzuregen. Die Rachel war derart bewegt und verwirrt,
dass ihr passirte, was bis dahin noch niemals geschehen:
ihr wunderbares Gedächtniss Hess sie in der so wohlbekannten
Bolle zweimal im Stich. Die Darsteller des Almaviva und
der Rosine vermochten das Entsetzen, das sie empfanden,
nicht zu verbergen, bei jedem Worte Figarcfs fürchteten sie
einen Ausbruch seines Wahnsinnes. Aber wunderbar, so
vorzüglich die Darstellung Monrosds immer gewesen, diesmal
überbot er noch alle früheren Leistungen in dieser seiner
Lieblingsrolle. Es schien beinahe, als wolle er die Mitspielenden
durch seine ruhige Haltung, sein fröhlich-freundliches
Lächeln beruhigen; nur bei einer Gelegenheit ward
seine Selbstbeherrschung erschüttert. Gegen Ende des
dritten Actes hat Figaro dreimal auszurufen: „11 est foul"
Aller Herzen pochten bei diesem Ausrufe angstvoll, und
auch Monrose schien sich plötzlich der Wahrheit bewusst;
er sprach die Worte mit sich heftig steigender Vehemenz
und mit dem Ausdrucke verzweiflungsvollen Schmerzes.
Doch war der arme Monrose nicht der einzige Schauspieler
, der umnachtetcn Geistes die weltbedeutenden Bretter
betrat. Eine gleichfalls aus Mitleid erwirkte Benefiz Vorstellung
fand in London für den wahnsinnigen Schauspieler
Reddisch statt, wobei derselbe in der Rolle des Posthumus in
„Cymbeline" auftrat. Als ein Freund ihn auf dem Wege
nach dem Theater begegnete, erschrak er über das beinahe
idiotenhafte Aussehen des Unglücklichen; doch um ihn zu
ermuthigen, beglückwünschte er ihn zu seiner Wiederherstellung
. Reddisch erwiederte darauf:
— „Ja, ich bm wieder wohl, Sir, und Sie werden staunen
über meine Leistung in der Gartenscene." — „In der Gartenscene
? Ich dachte, Sie spielten den Posthumus?" lautete die
Erwiederung. — „Nicht doch, ich spiele den Romeo" Und
dabei beharrte der Kranke, auf dem Wege nach dem Theater
Stellen aus der Romeo-Holle recitirend. Auch im Theater
selbst war er kaum zu überzeugen, dass er eine andere
Bolle zu geben habe. Als sein Stichwort kam, schob man
ihn sanft auf die Bühne, doch fürchteten Alle hinter den
Coulissen, er werde seinen Posthumus mit einer Rede des
Romeo antreten. Doch nein, nach einer bescheidenen Verbeugung
gegen das Publicum setzte er vollkommen richtig
ein. Ja, er spielte die ganze Scene vollkommen gut; als
er jedoch wieder in die Coulissen kam, glaubte er sich abermals
berufen, den Romeo zu spielen. Allein wieder wirkte
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