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Wittig: Der alte Hexenglaube in neuer Romanform. 485
— Der Amtmann schwieg eine Weile, dann Mir er fort:
'Immer ist aber eine besondere Ursache vorhanden, und
glaubt mir, Junker, sobald wir erfahren, wo der Körper der
ersten alten Lisel geblieben, [es waren zwei einander ganz
ähnliche Hexenschwestern], schwinden die Zaubererscheinungen
, die das Volk gesehen haben will, von selbst. Sie
werden schwächer und immer schwächer, bis sie endlich
ganz aufhören und die Vernunft wieder in den Vordergrund
tritt I Ich habe es oft genug erlebt, dass die Menschen dann
selbst vor Gericht erscheinen und insofern wiederrufen, was
sie ^ früher gesagt, als sie alles dem Bösen in die Schuhe
schieben und kühn und dreist behaupten, sie seien von ihm
zur frühem Aussage gezwungen worden! Es ist nun einmal
so, eine böse Absicht haben sie nicht, sie haben das Recht
des Widerrufs, wer kann es also ändern?" — U. s. w.
Wir können indess nicht ganz mit diesen Ansichten
übereinstimmen, so plausibel sie auch für vorliegenden Fall
klingen mögen. Was würden heutige Richte!» zu einer solchen
Theorie über die in der Hauptsache fast gleichlautenden
Aussagen von 30 Zeugen sagen? Wenn ein so grosser Irrthum
in Zeugenaussagen über Gesehenes und Gehörtes
möglich wäre, so müsste ja fast jeder Indicien-Beweis hinfällig
erscheinen, und es könnte auf solchen allein hin unmöglich
mehr ein Urtheil gefällt und vollstreckt werden.
Jedenfalls hat, wie der Verlauf der weitern Geschichte er-
giebt, der Herr Amtsrichter die einzelnen Zeugen nicht genügend
ausgeforscht, um die Widersprüche unter einander
so eklatant zu machen, dass sich die Aussagen gegenseitig
selbst aufhoben und vernichteten. Es war doch wohl vor
Allem genau zu unterscheiden und zu inquiriren, was die
Leute wirklich selbst unter genau anzugebenden näheren
Umständen gesehen hatten und was sie nur vom Hörensagen
her kannten, dass es gesehen worden sei. Bei so vielen
Zeugen musste sich alsdann die Differenz der Beobachtungen
und Ansichten, der wirklichen und eingebildeten von selbst
ergeben. Wir möchten übrigens hier auf eine jüngst erschienene
Flugschrift hinweisen: — „Die Irrung der
Jurisprudenz im Strafprozesse, die Irrung der
Philosophie in der Schlussfolgerung." Vom Verfasser
Otto Hermann, Oberamtsrichter in Borna. (Borna, Robert
Noske und Leipzig, L. A. Kittler, 1884.) IM.—, welche
die Frage erörtert: — „Ist Voraussetzung zur der Annahme
von nicht hinreichend gerechtfertigten Urtheilen in Untersuchungssachen
vorhanden?" — und dieselbe jedenfalls in
unserem Sinne beantwortet. €fr* C Wittig*
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