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488 Psychische Studien. XI. Jahrg. 10. Heit. (Oktober 1884.)
sehen mit dem Freunde sein würde, in sein Zimmer. Sie
fand ihn düster, verdriesslich und entkräftet daliegend in
der Dämmerung eines der trübseligsten Wintertage, die man
sich vorstellen mag. Die Leiehenblässe seiner Lippen erschreckte
sie. — ,„Endlich kommst du,' sagte er. Oft hatte
er sie mit den nämlichen Worten empfangen; heute indessen
sprach er dieselben in einem weniger zärtlichen Tone,
beinahe mit dem Ausdruck der Strenge. — Traurig verstrich
ihr letztes Beisammensein!--Sie befand sich
bereits auf der Hausthürschwelle seiner Wohnung, beinahe
an der Treppe, als sie ihn mit seiner dünnen ängstlichzitternden
Stimme nachrufen hörte: ,Morgen; hörst du, —
bleibe nicht aus!' — Und doch leistete sie diesem letzten
Euf nicht Folge! — Auch ohne die Versicherung der
Mouche, dass es nicht an ihrem Willen, sondern an ihrem
Können gelegen habe, wird Jedermann, der für diese zarte
poesie- und gemüthsvolle Liebes - Elegie Verständniss und
Mitempfinden besitzt, davon überzeugt sein, dass nur die
physische Unmöglichkeit des Worthaltens sie daran gehindert
haben kann, ihr Versprechen einzulösen. War sie
doch vom Krankenbette in die rauhe Winterluft geeilt, um
dem Freunde das Gewünschte herbeizuschaffen, urid fühlte
sie sich doch immer noch leidend und von Schwäche heimgesucht
. So verstrichen mehrere Tage, ohne dass sie von
Heine etwas erfuhr. Da ereignete sich an einem Sonntagmorgen
— es war der 17. Februar — ein nasskalter,
trauriger Wintermorgen — etwas Seltsames. Als sie um
8 Uhr aufwachte, hörte sie in ihrem Zimmer ein zitterndes
Geräusch, ähnlich dem, welches die Nachtfalter, die an der
Zimmerdecke umherflattern, hervorbringen. Und als sie
im ersten Morgengrauen die Augen öffnete und sogleich
wieder schloss, glaubte sie ein ungeheures schwarzes Insect
vor sich zu sehen, das zu entfliehen suchte. Rasch erhob
sie sich, kleidete sich an und pochte an Heinas Thür, ob-
schon sie noch die Nachwirkungen eines ernsten Unwohlseins
in sich spürte. Man führte sie in ein stilles Zimmer,
wo ein stiller Mann in dem erhabenen Frieden des Todes
lag. Der geliebte Freund hatte wenige Stunden zuvor für
immer die Augen geschlossen." —
c) Dr. Paul Radestock in Breslau, dem die Litteratur
ein vortreffliches Werk „über das Traumleben" verdankt,
beginnt im Maihefte 1884 der Monatsschrift „Nord und
Süd" (Breslau, S. Schottlaender^) eine umfassende, an interessanten
Einzelheiten reiche Untersuchung über „Genie
und Wahnsinn." Er zählt eine grosse Anzahl von geistreichen
Personen auf, welche an dem Wahnsina verwandten
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