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Psychige je Stadien. XIII. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1886.) 249
Die Theorie von der psychischen Kraft im Verlauf
der Weltgeschichte.
Von Karl Kiesewetter.
IL
Vereinzelte Theorien.
A.»
"Wie wir in der Einleitung*) bemerkten, kamen schon
sehr früh einzelne klar denkende Köpfe zu der Erkennt-
niss, dass weder der Götterglaube, noch auch der Ein-
fluss der Dämonen und Geister die Räthsel befriedigend
lösen können, welche uns heute die „inediumistisch" genannten
Erscheinungen aufgeben, und dass man auf eine
fernsehende und fernwirkende Kraft oder Fähigkeit der
Seele zurückgehen müsse, wenn man an ein rationelles
Studium der hierher gehörigen Erscheinungen denken wolle.
Da nun aber das Fernsehen, sei es ein klares oder
ein symbolisches, häufiger vorkommt als das Fernwirken,
so ist es natürlich, dass wir im Alterthum das Orakelwesen,
die Divination und Mantik viel häufiger auf die „psychische
Kraft" zurückgeführt sehen, als z. B. Bewegungsphänomene
und dergl., was um so begreiflicher ist, als das räumliche
und zeitliche Fernsehen wohl ein übersinnlicher, aber
innerer, psychischer Vorgang ist, während beim Fernwirken
die übersinnliche Psyche auf das sinnliche Aeussere
physikalisch einwirkt. Und doch finden wir schon in der
Atomenlehre des Leukippus (ca. 498 v. Chr.) und Demokritus
(470—404) Spuren einer Erklärung der Actio in distans
durch die psychische Kraft.
Nach diesen Philosophen ist die Seele ein materielles,
aus Atomen zusammengesetztes von Denk- und Bewegungskraft
und besteht aus runden Atomen, weil diese sich am
leichtesten bewegen und in andere Körper eindringen können.
Von gleicher Natur ist das Feuer, in dessen runden
Atomen die Bewegungskraft ganz besonders ruht. Alle
Körper besitzen etwas von den runden Feueratomen und
die Seele am meisten; deshalb ist sie auch von einer vorzüglichen
Bewegungskraft und wird mithin auch auf die
entfernten Körper bewegend wirken können. (Plutarch, „de
plac. Phil." I. cap. 26. IV. cap. 4.)
Sokrates (469 — 399) beschäftigt sich mit dem fernsehenden
Vermögen der Seele, welches er aus ihrer
*) Vgl. Jahrgang XII Heft 7 der „Psych. Studien."
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