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300 Psychische Studien. XIII. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1886.)
.Ruhe; zuweilen vernehmen sie eine wohlgeordnete Musik,
einen Tanz oder harmonischen Gesang, zuweilen das Gegen«
theil; zuweilen scheint ihr Körper in die Höhe zu wachsen,
zuweilen in die Breite; zuweilen scheint er in der Luft zu
schweben. Zuweilen vernehmen sie eine wohlklingende
Stimme und wiederum durch Stillschweigen und Zwischenräume
getrennte Töne und vieles Andere."
Nach dem bekannten persischen Arzt und Philosophen
Ävicenna, 979—1036, („De anima" Lib. VIII cap. 7) ist die
Seele eine geistige Form, welche nicht unzertrennlich mit
dem Körper zusammenhängt, sondern gleichartig den obern
Intelligenzen ist. Sie besitzt deshalb eine absolute Kraft
über alle sublunarischen Körper, vermittelst deren sie der
Materie eine Form giebt; durch diese Kraft kann die Seele
die N^tur nachahmen, ohne ein anderes Mittel in die Ferne
wirken und auf alle materiellen Dinge eine gewisse Gewalt
ausübea. Diese wirkende Kraft ist die Imagination,
durch welche z. B. ein Mensch ein entferntes Kameel zum
Falle bringen kann. — Wenn die Seele geheiligt und von
Sünden gereinigt ist, so kann sie dem Universum, den
Elementen und Naturkräften gebieten; sie kann die Elemente
verwirren, Regen und Sturm erregen etc.*) („De anima"
lib. IV.) — An anderer Stelle erzählt Ävicenna von einem
Schlangenzauberer, welcher durch die Kraft seiner Seele,
nicht der ßeschwörungsworte, über hundert Schlangen an
einen Ort gebannt habe; auch berichtet er, dass gewisse
Leute durch die Kraft ihrer Imagination Geschosse aus
den Wunden zögen.**)
Im christlichen Abendlande stossen wir erst spät und
sehr vereinzelt auf Spuren der Theorie von der psychischen
Kraft. Zuerst treffen wir auf eine solche bei dem berühmten
Scholastiker Albertus Magnus, 1193—1280, welcher „de motu
animalium" lib. III. von zwei kleinen Knaben erzählt, von
denen der Eine alle Thüren zur linken und der Andere zur
rechten Hand aufsprengte, an denen sie vorübergetragen
wurden, auch wenn sie noch so fest verschlossen waren.
Diese wundervolle Kraft, sagt Albertus, könne nicht anders
als aus einer wundervollen Kraft erklärt werden, welche
die Seele dieser Knaben vom Himmel erhalten habe.
*) Man vergleiche „Psych. Stud." Juni-Heft 1886 S. 248 und die
Fortsetzung im folgenden August-Heft. Die Red.
**) Interessant ist auch die Thatsache, dass Ävicenna den
statuvolisehen Zustand kannte, denn nach Cardanus „De
varietate" lib. VIII cap. 48 übten, wie A. berichte, die Araber täglich
die Kunst, sich nach Belieben in Ekstase zu versetzen, sie sei seit
Jahrhunderten üblich und werde in gewissen Familien vererbt
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