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Wiesendangeri Das Krystallsehen.
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liehen Mannes, der ihr aber gleich den Rücken zudrehte.
Er war bekleidet wie ein Schiffer, hatte in der einen Hand
eine lange Stange, die er waagerecht balancirte, trug ein
kurzes Jaquet und einen spitzen Hut. (Wohl ein italienischer
Fischer.) Die Figur wurde zum fahrenden Schüler
mit langem Haar und glatter Mütze, und dann immer undeutlicher
bis zu einem dunklen Punkt. — Jetzt wurde es
wieder hell, und sie erblickte eine Wasserfläche. Jetzt
sah sie eine blonde, hübsche, junge Frau mit grossen
schwarzen Augen an dem Wasser entlang spaziren, am
Hals mit Pelzwerk bekleidet. Plötzlich erscheint der Frau
gegenüber eine scheussliche Fratze wie ein Todtenschädel,
welcher, nachdem die Frau verschwunden, immer noch
bleibt und die Seherin angrinst. Allmählich verschwand
auch dieses Gesicht, und sie sieht den Meeresgrund mit
Muscheln besäet. Das Bild verschwand, und sofort sah sie
einen Pfaffen, wie sie sich ausdrückte, der aber gleich
wieder der Fratze von vorhin Platz machte,*) Allmählich
verschwand das Gesicht, und eine Dunkelheit, wie ein
neuer Abschnitt entstand, worauf sie einen mächtigen,
fürchterlichen Vogel mit krummem Schnabel sah, der etwas
Weisses fest hielt; doch konnte sie nicht erkennen, was es
war. Jetzt öffnete sich die Erde vor dem Vogel, und ein
kleiner Mann (viel kleiner als der Vogel), mit weissen
Strümpfen bekleidet, stieg heraus. Er verschwand, und sie
sah jetzt plötzlich ein kleines Boot mit zwei Menschen auf
Wasser schwimmen, nackte Felsen stiegen empor--sie
musste enden, denn ihre Augen versagten ihr den Dienst.
Während ihres Sehens erwies es sich, dass sie vollständig
bei Vernunft (zurechnungsfähig) war, denn manchmal
versuchte sie, an den Bildern zu zweifeln, mit der Bemerkung
, ob dies oder jenes nicht durch den Schein der
brennenden Lampe erzeugt werde.
2. Januar 1880. Anwesend: Dr. H., Frau 0. und ich.
Frau 0., etwas unpässlich, brauchte heute etwa 20
Minuten, bis sie sah. Das erste schien der Kopf eines sich
wiederholt zeigenden uud wieder verschwindenden Hirsches
zu sein. Sodann sah sie Wasser und Muscheln in Bewegung
. Nun einen alten Mann mit boshaftem, scheuss-
lichem Gesicht; sieht aus wie ein Strolch; hat kurze
*) Man könnte mit Leichtigkeit aus diesen anscheinend zusammengehörigen
Bildern einen kleinen Roman spinnen. Die Wasserfläche,
das Meer, die blonde hübsche Frau, das Opfer eines Meuchelmordes
(eines Pfaffen), denn sicher soll sie auf dem muschelbesäeten Meeresgrunde
sich betten, üeber diesen Erscheinungen: Meer, junge Frau,
Meeresgrund, Pfaffe, grinst symbolisch die Todtenfratze,
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