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346 Psychische Studien, XIII. Jahrg. 8. Heft. (August 188C.)
die Erscheinungen des sogenannten Gedankenlesens erst
seit zehn Jahren überhaupt bekannt seien, da im Gegen-
theile schon in den Ueberlieferungen der ältesten Cultur-
völker über Vorgänge, welche — unserer heutigen Anschauung
entsprechend — als Gedankenübertragung aufzufassen
sein dürften, berichtet wird. Nur die Form, in
welcher das Gedankenlesen gegenwärtig von manchen Personen
bei Schaustellungen produeirt wird, und in welcher
es zuerst die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt auf sich
lenkte, wurde erst im Jahre 1875 in New York von dem
Gedankenleser Brown zum ersten Male dem Publikum vorgeführt
. Wie altbekannt diese Erscheinungen aber sind,
geht aus einer Stelle von Du Prefs Broschüre: ,,Das Gedankenlesen
",*) welche ich kurz wiedergeben will, hervor
: .... „Eine grosse Rolle spielt das Gedankenlesen
in der christlichen Mystik, Als Bischof Fulco von Toulouse
nach 1/3 wen kam, war er erstaunt über die grosse Menge
heiliger Frauen, von welchen einige die Menschen durchschauten
und ihnen die in der Beichte verschwiegenen
Sünden vorhielten.**)
In Gegenwart aer Heiligen Alipus, Licentius und Try-
ffinus prüfte der Kirchenvater Augustinus die Fähigkeit des
karthaginiensischen Wahrsagers Abbiccerius, fremde Gedanken
zu lesen, musste diese Fähigkeit auch
zugeben, schrieb sie aber, den Anschauungen jener Zeit
entsprechend, dem Teufel zu, weil Abbiccerius kein Christ
war.**4) Es herrschte ja noch das ganze Mittelalter hindurch
die Ansicht, dass eine und dieselbe magische Funktion, je
nach ihrem Träger, ein christliches Wunder oder höllische
Zauberei sein könnte. —
„Tertullian sah eine Somnambule, von der er sagt: „Sie
sieht und hört während ihrer Verklärungen die himmlischen
Geheimnisse, weiss, was im Herzen mehrerer Personen verborgen
ist, und giebt Heilmittel an."f) — Die Vorbilder
der christlichen Gedankenleser finden wir übrigens schon
in der Bibel; ich beschränke mich aber Kürze halber auf
die blosse Angabe einiger Stellen: „Buch der Weisheit
VII, 20. — Apostelgeschichte V, 3. — 1. Corinther XII, 10,
XIV, 24, 25. — Joh. II, 24, 25, IV, 16-19, XIII, 21-27.
— Matth. XII, 25, XXVI, 21—26."----
Bezüglich weiterer Daten über beglaubigte Fälle von
*) Verlag von Ä. Scholtfaender, Berlin und Breslau 1884 erschienen
, pag. 12,
**) Goerres: „Die christliche Mystik" 1, 299.
***) Schindler: „Magisches Geistesleben",
f) Tertullian: „De anima" c. 26.
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